Porträtbild von Paul Celan
ÖNB
ÖNB
Literaturwissenschaft

Erinnerungen an Paul Celan

Am 23. November 1920 wurde der Lyriker Paul Celan geboren, einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker. Anlässlich des 100. Geburtstags erinnert der Anglist und langjährige Wegbegleiter Klaus Reichert an den Dichter – und guten Freund.

Geboren wurde Paul Celan als Sohn einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie im damals rumänischen Czernowitz. Im Holocaust verlor er seine Eltern und überlebte die Zwangsarbeit in mehreren Lagern. Nach einem Zwischenspiel in Bukarest kam Celan nach Wien, wo er Ingeborg Bachmann, ihre Freundin Nani Demus und Klaus Demus kennenlernte.

“Erinnert an den jungen Kafka“

1948 reiste Celan nach Paris, wo er als Dolmetscher und Übersetzer von Dichtern wie Arthur Rimbaud, Henri Michaux, René Char, Sergej Jessenin, Ossip Mandelstam oder Giuseppe Ungaretti arbeitete. Ab 1959 war er als Lektor für Deutsche Sprache und Literatur an der École Normale Supérieure tätig und heiratete die aus einer alten Adelsfamilie stammende Malerin und Grafikerin Gisèle de Lestrange.

Die Bekanntschaft Klaus Reicherts mit Paul Celan begann in Paris, wo er den Dichter im April 1958 besuchte. Er hatte ihm vorher einen langen Brief geschrieben, in dem er seine Bewunderung für die Gedichte des noch wenig bekannten Schriftstellers ausdrückte. In seinem Buch „Paul Celan. Erinnerungen und Briefe“ beschreibt er den Autor als „einen schlanken, schönen, noch jugendlichen Mann, dessen Gesicht ihn an den jungen Kafka erinnerte“.

Destruktion der traditionellen Poesie

Eine für Reichert wichtige Lektüre war der Gedichtband „Sprachgitter“, der 1959 publiziert wurde. Es folgten Gedichtbände wie „Von Schwelle zu Schwelle“, „Die Niemandsrose“, „Atemwende“ und „Fadensonnen“, die Celans Ruf als singulärer Dichter begründeten. In diesen Werken war Celan auf der Suche nach einer neuen dichterischen Sprache, die sich dem Pathos der früheren Dichtergeneration entzog.

Er entwarf eine „grauere Sprache“ – eine Dekonstruktion der deutschen Dichtersprache, die herkömmliche Sprachmuster und poetische Verfahren in Frage stellte, um innovative „Wortlandschaften“ zu kreieren. Das bedeutete laut Reichert, „dass er nicht mehr an die Großen seiner Jugend anknüpfen konnte – an Hofmannsthal, Trakl, George, Rilke“.

Skepsis zeichnete Celans Haltung zur konventionellen Sprache aus. Immer wieder brach er die deutsche Sprache in seinen Gedichten auf, die er paradoxerweise in Paris verfasste. Für Reichert war das „eine andere Sprache, nicht mehr eine durch -und heraushörbar vertraute Sprache. (…) Bei den meisten Gedichten fehlte die Möglichkeit, sie in meinen Verstehenshorizont zu übertragen“, bekannte Reichert.

„Sie waren wie Wassertropfen, die erst unter dem Mikroskop zeigten, was alles in ihnen wimmelte“. Celans Dekonstruktionen der Gedichte erschwerte deren Rezeption. Es stellte sich die Frage: „Wie soll man diese Gedichte lesen?“ Von Celan selbst erhält man keine Ratschläge – außer, dass man sie immer wieder lesen solle, „das Verständnis komme von selbst“.

„Goll Affäre“

Nach einem Zwischenspiel in London studierte Reichert bei dem Literaturwissenschaftler Peter Szondi, der Celan gut kannte und ihn gegen Angriffe von Literaturkritikern verteidigte, die Celans Sprache als hermetisch bezeichneten. Besonders empörte den Dichter der Vorwurf von Claire Goll, dass Celan Gedichte ihres Ehemanns Yvan Goll plagiiert habe.

Diese Anschuldigung verletzte Celan zutiefst; selbst Solidaritätserklärungen von Peter Szondi, Walter Jens, Ingeborg Bachmann und vom Jugendfreund Klaus Demus konnten den Dichter nicht beruhigen. Die sogenannte Goll-Affäre wurde zu einer traumatischen Erfahrung, die Celans Misstrauen selbst Freunden gegenüber steigerte und mitverantwortlich für seine spätere labile psychische Disposition wurde.

Traumatisches Erlebnis in Frankfurt

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre war Reichert der Lektor Celans im Suhrkamp Verlag. Die Vertragsunterzeichnung wurde in Frankfurt mit reichlich Whisky gefeiert, was dazu führte, dass Celan auf dem Heimweg in das Hotel Revolutionslieder sang und anarchistische Parolen skandierte.

Porträtbild von Paul Celan
picturedesk.com/Ullstein Bild/ullstein bild – Heinz Köster

Literatur

Klaus Reichert: Paul Celan. Erinnerungen und Briefe, Suhrkamp (Leseprobe)
Petro Rychlo (Hg.): Mit den Augen von Zeitgenossen, Suhrkamp
Paul Celan: Die Gedichte, suhrkamp taschenbuch 5105
Paul Celan: „etwas ganz und ganz Persönliches“. Briefe 1934 – 1970, Suhrkamp

Die ausgelassene Stimmung wurde jäh unterbrochen, als Celan ein Wahlplakat der FDP sah – mit den Farben Blau-Gelb-Weiß. „Celan zuckte zusammen, erstarrt, zu Tode erschrocken und rief entsetzt: ‘Um Gottes willen, das sind die Farben der ukrainischen Faschisten‘“. Das Erlebnis löste vermutlich Wahnvorstellungen Celans aus, die eine monatelange psychiatrische Behandlung in Paris erforderlich machte.

Vergebliche Hoffnung auf Heidegger

Große Verwunderung löste Celans Begegnung mit dem Philosophen Martin Heidegger aus, die auf der Ferienhütte des Philosophen in Todtnauberg im Schwarzwald stattfand. Das Gespräch zwischen dem Philosophen, der in der Rektoratsrede in Freiburg 1934 den Nationalsozialismus propagierte, und dem Lyriker war eher eine Gesprächsverweigerung; es ging hauptsächlich um Pflanzen und Naturimpressionen, wie es in dem Gedicht Todtnauberg heißt: „Orchis und Orchis, einzeln“ und „Arnika, Augentrost, der/Trunk aus dem Brunnen mit dem/ Sternwürfel drauf" und weiter: „Waldwasen, uneingeebnet“.

Die von Celan erhoffte Stellungnahme Heideggers bezüglich seiner ursprünglichen Sympathie für das nationalsozialistische Regime erfolgte nicht: „Die in dies Buch/ geschriebene Zeile von/ einer Hoffnung, heute,/ auf eines Denkenden/ kommendes/ Wort/ im Herzen“. Den Gesprächsverlauf schilderte der Dichter so, berichtet Klaus Reichert: „Ich fragte ihn über das Gewesene, er sagte, er werde sich überlegen, was er mir sagen könne. Das hat er dann allerdings nicht getan.“

Verstörung wegen der „Martinsgans“

Wie reizbar und verstört Celan bereits war, macht folgende Begebenheit deutlich: Nach der Begegnung mit Heidegger lud Reichert den Dichter in seine Wohnung in Frankfurt am Main ein, wo sich auch die Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz einfand. In langen Monologen schwärmte Celan von den Sympathien, die ihm von den Heideggers bei früheren Aufenthalten in Freiburg entgegengebracht wurde.

Besonders angetan war Celan von der Ehefrau Heideggers, die sich offen zum Nationalsozialismus bekannte; „er fand sie reizend“, was Marie Louise Kaschnitz, die sie kannte, zu der Bemerkung veranlasste: „Wir haben sie damals nur die Martinsgans“ genannt. Dazu kam noch, dass die vier Monate alte Tochter im Nebenzimmer zu schreien begann. „Celan knallte sein Besteck neben den Teller und richtete seinen heiligen Zornesblick auf das Kinderzimmer.“

Letzte Erinnerungen

Trotz der wachsenden Wertschätzung seiner Lyrik zog sich Celan immer mehr zurück. Das Wiedererstarken des Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich, die drohende Gefahr eines Atomkrieges sowie persönliche Angriffe und Intrigen von Kritikern führten in den 1960er Jahren zu schweren Depressionen. “Es kommen kahle Zeiten, ich muss täglich in meine Abgründe hinab“, notierte Celan im Jahr 1969.

Nach mehreren Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken, in die er eingewiesen wurde, nachdem er seine Ehefrau mit einem Messer attackierte, stürzte sich Celan in der Nacht vom 19. auf den 20. April 1970 vermutlich von der Pariser Brücke Pont Mirabeau in die Seine. Sein Leichnam wurde erst am 1. Mai gefunden. Peter Szondi sagte am Telefon zu Klaus Reichert: „Jetzt hat er endlich seine Ruhe.“

Das Fazit von Klaus Reichert über sein Buch: „Diese Erinnerungen an Paul Celan sind wohl die letzten, die noch geschrieben werden konnten, die noch ausstanden. (…). Überlebende Freunde, die sich noch äußern könnten, gibt es nicht mehr.“