Schülerinnen sitzen im Kreis und hören jemandem zu
Getty Images/Katarzynabialasiewicz
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Historischer Erlass

50 Jahre (kaum) Sexualpädagogik

Vor 50 Jahren hat das Unterrichtsministerium einen Erlass veröffentlicht, wonach Sexualität an den Schulen umfassend und fächerübergreifend unterrichtet werden soll. Die Realität sieht bis heute anders aus. Sexuelle Bildung bleibt an den Schulen eine Randerscheinung – erst recht in Zeiten von Homeschooling.

„Im Rahmen einer umfassenden Sexualpädagogik sollen Kindern und Jugendlichen Informationen und Kompetenzen vermittelt werden, um verantwortungsvoll mit sich und anderen umgehen zu können“, heißt es im gültigen Erlass von 2015. Er ist die jüngste Adaption des ursprünglichen Erlasses zur „Sexualerziehung in den Schulen“, der am 24. November 1970 unter Unterrichtsminister Leopold Gratz (SPÖ) veröffentlicht wurde – also genau vor 50 Jahren.

Nicht nur Biologie

Wie zumeist, wenn es um Sexualpädagogik geht, gab es auch 2015 im Vorfeld politische Scharmützel. Konservative Kreise befürchteten, dass zu viel an konkreten, ihrer Weltsicht widerstrebenden Werten gelehrt werden sollten. So wurde die Kompromissformel gefunden: „Die Schule soll dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche befähigt werden, eigene Wertvorstellungen und Respekt vor anderen Werten zu entwickeln.“

Betont wurde in dem Erlass auch, dass die Vermittlung von biologischem Faktenwissen zwar ein wichtiger Teil sei, „aber keinesfalls ausreichend, um dem ganzheitlichen Anspruch einer umfassenden Schulpädagogik zu genügen". Auch andere Fächer sollten sich um die Sexualerziehung kümmern, nicht zuletzt könne auch auf die Hilfe externer Fachkräfte zurückgegriffen werden.

Nach „Teenstar“ nun Akkreditierungsverfahren

Genau diese sorgten 2018 für politischen Zündstoff. Nachdem Schulungsunterlagen des externen Vereins „Teenstar“ mit fragwürdigen Inhalten (u.a. Homosexualität als heilbares Identitätsproblem und schädliche Selbstbefriedigung) aufgetaucht waren, wollte die damalige ÖVP-FPÖ-Regierung externe Vereine komplett von der schulischen Sexualerziehung ausschließen.

Das Vorhaben hat sich zwar nach Ibiza erledigt, als Reaktion ist im Bildungsministerium unter Heinz Faßmann (ÖVP) aber ein Akkreditierungsverfahren in Ausarbeitung, bei dem sich alle sexualpädagogischen Vereine bewerben können. „Das ist sehr zu begrüßen und entspricht unserer langjährigen Forderung nach einer Qualitätssicherung in der sexuellen Bildung“, sagt die Sexualpädagogin Stefanie Rappersberger von der Plattform Sexuelle Bildung.

Schüler in einer Klasse
ORF.at/Zita Klimek

Nur neun Stunden pro Jahr und Klasse

Sie ortet generell große Lücken in der Sexualerziehung an Österreichs Schulen. Das beginne schon mit dem Wissensstand, wie Sexualunterricht tatsächlich stattfinde. Es gebe nur eine einzige Studie dazu, und die stammt aus dem Jahr 2015 vom Bundeszentrum für Sexualpädagogik an der PH Salzburg. Sie hat herausgefunden, dass Themen der Sexualerziehung für Schüler und Schülerinnen, ihre Eltern und das Lehrpersonal generell sehr wichtig sind. Allerdings: Im Schnitt wenden die Lehrerinnen und Lehrer bei den Sechs- bis 15-Jährigen nur etwas mehr als neun Stunden pro Jahr und Klasse für die Materie auf, bei den über 15-Jährigen sogar weniger als fünf Stunden.

Die geringe Stundenanzahl im Klassenzimmer spiegelt sich in der Lehrerausbildung wider. Es gebe keine Pflichtlehrveranstaltungen dazu, beklagt Stefanie Rappersberger, nur vereinzelte Seminare. Das stehe nicht nur im Widersprich zur ministeriellen Forderung nach Sexualpädagogik als Querschnittmaterie, sondern auch zur Lebensrealität der Kinder. „Sie sind durch Chat-Gruppen und Internet sowieso mit sexuellen Inhalten konfrontiert“, so die Psychologin. „Vieles, was sie da sehen, ist aber nicht passend für die jeweilige Altersgruppe und oft unrichtig – professionelle Sexualpädagogik bietet eine Orientierung, um diese Erfahrungen einordnen zu können, und Räume, um Fragen dazu zu stellen. Halb- und Falschwissen können so korrigiert werden.“

“Mehr als nur über Geschlechtsverkehr reden“

Dafür fehle es aber oft an finanziellen Mitteln und der Qualifikation im Studium. „Viele Lehrpersonen fühlen sich daher verständlicherweise nicht entsprechend für sexualpädagogischen Unterricht vorbereitet.“ In diese Bresche springen oft die externen Vereine, die Rappersberger mit der Plattform Sexuelle Bildung vertritt.

Ihre eigenen Erfahrungen im Klassenzimmer seien sehr positiv. Wenn es gelingt, eine Atmosphäre des Vertrauens und Respekts zu schaffen, sei das Interesse der Schülerinnen und Schüler sehr groß. Das Credo der Sexualpädagogin: „Sexualpädagogik bedeutet nicht nur über Geschlechtsverkehr zu reden. Sie soll auch helfen, Kommunikationsfähigkeiten zu entwickeln, Bedürfnisse zu formulieren und selbstbestimmt und verantwortungsvoll mit Sexualität umzugehen.“

Sexualunterricht geht auch online

Die Coronavirus-Zeit ist auch für die Sexualpädagogik eine besondere Herausforderung. „Ein Großteil der Jugendlichen könnte um einen für ihre Entwicklung zentralen Bildungsbereich umfallen“, warnt die Plattform Sexuelle Bildung in einer Aussendung. An den externen Vereinen liege das nicht, sagt Rappersberger. Viele von ihnen hätten sich bereits an die neue Situation angepasst und Online-Meetings sowie -Kurzvideos zu sexualpädagogischen Themen entwickelt. „Besonders Elternabende sind sehr gut angenommen worden, da es vielen leicht möglich war, per Zoom dabei zu sein.“

Auch unabhängig vom Coronavirus entspricht die Wirklichkeit der Sexualpädagogik an Österreichs Schulen noch immer nicht dem Geist des Erlasses vor 50 Jahren. „Der Erlass bietet tolle Möglichkeiten, diese werden jedoch oft nicht entsprechend genutzt“, sagt Rappersberger.