Der Mensch ist ein soziales Lebewesen. Wie schwer es den allermeisten fällt, soziale Kontakte zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren, wird dieser Tage mehr als deutlich. Langfristig kann ein Mangel an sozialen Bindungen sogar psychisch und körperlich krank machen, weshalb Mediziner gar vor der Einsamkeit als neuer Volkskrankheit warnen. Das Gefühl ist natürlich stark subjektiv geprägt. Wer gerne allein ist, fühlt sich meist nicht so schnell einsam. Gleichzeitig kann man sich auch in einer Menge recht verlassen vorkommen.
Aber selbst wenn nicht alle das gleiche Bedürfnis nach Nähe haben, gehört ein bestimmtes Maß an sozialer Interaktion zum Menschsein dazu. Vermutlich handle es sich sogar um ein menschliches Grundbedürfnis – ähnlich wie Essen oder Schlafen, schreiben die Forscherinnen und Forscher um Livia Tomova vom Massachusetts Institute of Technology in ihrer soeben in „Nature Neuroscience“ erschienenen Studie. Schon ein kurzfristiger Mangel an Kontakten könnte ein suchtähnliches Verlangen erzeugen – vergleichbar mit dem Heißhunger nach vielen Stunden ohne Nahrung. Das legen zumindest Versuche mit Mäusen nahe, die ebenfalls zu den sozialen Tieren zählen: Bei den Nagern hat Isolation tatsächlich messbare Auswirkungen im Belohnungssystem des Gehirns. Und danach suchen sie den Kontakt zu ihren Artgenossen umso nachdrücklicher.
Einsam oder hungrig
Ob es bei Menschen zu ähnlichen neurologischen Veränderungen kommt, haben Tomova und ihr Team nun in Experimenten untersucht. 40 junge und gesunde Erwachsene im Alter von 18 bis 40 Jahren (13 Männer, 27 Frauen) nahmen daran teil. An einem Tag waren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zehn Stunden (9:00 bis 19:00) komplett isoliert. D.h., sie konnten weder physisch noch virtuell mit anderen Menschen Kontakt aufnehmen. Smartphones und Computer mussten sie abgeben, sie konnten aber Lesen, Kreuzworträtsel lösen oder sich anderweitig beschäftigen. Zum Essen hatten sie auch genug. Am Ende des Tages wurden sie befragt. Außerdem sollten sie Bilder von appetitanregenden Speisen, sozialen Aktivitäten (z.B. Freunde, die lachen) oder Blumen betrachten, während ihr Gehirn mittels funktionaler Magnetresonanztomographie durchleuchtet wurde.
An einem anderen Tag wurde ein weiteres 10-Stunden-Experiment durchgeführt. Dieses Mal mussten die jungen Frauen und Männer auf Essen verzichten. Am Abend folgten ebenfalls Befragungen und Gehirnscans. Befragt und gescannt wurde zum Vergleich auch an einem dritten „neutralen“ Tag ohne vorhergehendes Experiment.
“Heißhunger“ nach Kontakten
Wenig überraschend waren alle Teilnehmer nach zehn Stunden ohne Essen ausgehungert und genervt. Auch die sozial Isolierten fühlten sich am Ende des Tages unwohl, einsamer sowie unglücklicher als zuvor und hatten ein starkes Bedürfnis nach menschlichen Begegnungen.
Diese subjektiven Einschätzungen spiegelten sich auch im Gehirn, schreiben die Studienautoren. Das besondere Augenmerk galt dabei solchen Hirnregionen, die bekanntermaßen durch Verlangen, Hunger oder Sucht aktiviert werden. Am stärksten waren die Reaktionen in diesen Bereichen nach der sozialen Isolation beim Anblick von Bildern mit sozialen Motiven, nach dem Fasten beim Anblick von Essensbildern.
Laut den Forscherinnen und Forscher zeigte sich im Gehirn tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Heißhunger und sozialem Verlangen. Aber nicht bei allen war diese Sehnsucht gleich ausgeprägt. Menschen, die bei der Eingangsbefragung von häufigeren Gefühlen der Einsamkeit berichtet hatten, reagierten weniger stark. Für all jene, die normalerweise sehr sozial eingebunden sind, mit und ohne Medien, könne so ein Tag der Isolation schon sehr lang werden, meinen dazu die Autoren.
Langfristige Folgen
Es könne unterschiedliche Folgen nach sich ziehen, wenn ein Grundbedürfnis nicht oder nur mangelhaft erfüllt wird: Einerseits kann der Entzug den Fokus auf das Vermisste verengen; aus Studien wisse man z.B., dass ausgehungerte Menschen oft nicht sehr sozial sind. Sie wollen einfach etwas zu essen. Ein Mangel kann auf der anderen Seite aber auch zur Kompensation führen, schreiben Tomova et al. Tierversuche zeigen beispielsweise, dass sozial isolierte Individuen mehr essen oder eher zum Substanzmissbrauch neigen. Vor allem wenn der Mangel länger anhält, werden solche Ersatzhandlungen wahrscheinlicher.
Wie viele Interaktionen und Kontakte es eigentlich braucht, damit unser unmittelbares soziales Grundbedürfnis ausreichend gedeckt ist, sei allerdings unklar, heißt es in der Studie. Dabei sei diese Frage nicht zuletzt in Zeiten einer Pandemie, wo zumindest physische Treffen stark eingeschränkt werden sollen, essenziell. Mit Hilfe von Technik können wir heute wenigstens virtuell verbunden bleiben, so die Forscher. Manche Psychologen warnen jedoch davor, dass Internet und soziale Medien die gefühlte Isolation noch verstärken können.