Portrait von Friedrich Engels (1820 – 1895)
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Friedrich Engels

Der Chronist des Elends

Friedrich Engels radikale Kritik am Kapitalismus war eine Antwort auf die soziale Frage: Das Elend und die „barbarische Gleichgültigkeit“, von der Engels im 19. Jahrhundert schrieb, sind bis heute nicht aus der Welt verschwunden. Am 28. November jährt sich sein Geburtstag zum 200. Mal.

Im „Kommunistischen Manifest“, veröffentlicht 1848 in London, warfen Friedrich Engels und Karl Marx der Bourgeoisie vor, rücksichtslos der Kapitalakkumulation nachzugehen. Der Gelderwerb sei die Sonne, um die sich alles drehe, konstatierten sie; die Bourgeoisie kenne nichts als den schnellen Gelderwerb; die zerstörerische Logik des Privateigentums habe die Menschen zu Egoisten gemacht.

Literaturhinweise

  • Lars Bluma (Hg.): Friedrich Engels. Ein Gespenst geht um in Europa. Begleitband zur Engelsausstellung, Bergischer Verlag
  • Jürgen Herres: Marx und Engels: Porträt einer intellektuellen Freundschaft, Reclam
  • Tristram Hunt: Friedrich Engels. Der Mann, der den Marxismus erfand, List Verlag

„Die Lage der arbeitenden Klasse“

Von Marxismus erhofften sich Marx und Engels eine Umgestaltung der Existenz der gesamten Menschheit, die eine neuartige Qualität des gesellschaftlichen Zusammenlebens aufweisen sollte. Eine Umgestaltung, „die es dem Einzelnen ermöglicht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, […] ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden".

Im Gegensatz zu dieser idyllischen Vorstellung war die Situation des Proletariats von Armut und Not gekennzeichnet. In den 1839 publizierten „Briefen aus dem Wuppertal“ beklagte Engels „das schreckliche Elend unter den Fabrikarbeitern“. Noch drastischer schilderte er in der 1845 erschienen Schrift „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ die katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen des industriellen Proletariats. Seine persönlichen Eindrücke ergänzte er durch Zeitungsartikel und wissenschaftliche Publikationen.

„Sozialer Mord“ am Proletariat

Engels bezeichnete die Lage des Proletariats als „sozialen Mord“; verübt von einer Kapitalistenklasse, die dafür verantwortlich sei, dass ein Heer von Deklassierten in Armut leben musste. Mitverursacht wurde diese Situation durch die industrielle Revolution, die die Arbeitsteilung, den Einsatz von Maschinen und die Dampfkraft mit sich brachte. Besonders der Einsatz von Maschinen trug zur Verelendung der Arbeiter bei. In englischen Fabriken wurden große Maschinen eingesetzt, die eine gesteigerte Produktion zur Folge hatte. Speziell die Waren der Textilindustrie, die bisher durch Handarbeit hergestellt wurden, konnten billig produziert werden, was zur Folge hatte, dass zahlreiche Spinnereien und Webereien, die sich größtenteils im ländlichen Bereich befanden, geschlossen werden mussten; Die Arbeiter und Arbeiterinnen der Kleinbetriebe verloren ihre Existenzgrundlage und zogen in die Großstädte, wo sie, so Engels, ein Dasein als „Sklaven der besitzenden Klasse“ fristen mussten.

Frauen- und Kinderarbeit

Zunehmend verrichteten Frauen und Kinder die Fabrikarbeit, weil sie weniger Lohnkosten verursachten. Wie die Arbeitsverhältnisse für Kinder beschaffen waren, beschrieb Engels am Beispiel von Kohlengruben: „Dort arbeiten Kinder, die meisten im Alter von etwa 8 Jahren. Sie werden gebraucht, um die Zugtüren, welche die verschiedenen Abteilungen des Bergwerks trennen, zu öffnen und zu schließen. Um diese Türen zu beaufsichtigen, mussten sie zwölf Stunden täglich einsam in einem dunklen, engen, feuchten Gang sitzen“. Laut Engels verstarben 1840 etwa 57 Prozent der Arbeiterkinder aus den Elendsvierteln von Manchester vor Vollendung des fünften Lebensjahrs.

Marx-Engels-Denkmal in Berlin
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Marx-Engels-Statue in Berlin-Mitte

Auch die desolaten Wohnverhältnisse beschrieb Engels in seinen Studien: "Man gelangt über ein holpriges Ufer, zwischen Pfählen und Waschleinen hindurch in dies Chaos kleiner, einstöckiger und einstubiger Hütten, von denen die meisten ohne allen künstlichen Fußboden sind – Küche, Wohn- und Schlafzimmer, alles vereinigt. In einem solchen Loche, das kaum sechs Fuß lang und fünf breit war, sah ich zwei Betten – und was für Bettstellen und Betten – die nebst einer Treppe und einem Herd gerade hinreichten, um das ganze Zimmer zu füllen“. Es gab keine Brunnen, keine Toiletten; die Abfälle wurden auf die engen, verschlammten Gassen geworfen. Ganze Straßen waren mit Abfällen und Ausscheidungsstoffen bedeckt. Aufgrund der Tiefe des Schlammes waren sie kaum passierbar und von unerträglichem Gestank erfüllt. In solchen Gegenden kam es auch immer wieder zu Cholera- und Typhusepidemien.

Gleichgültigkeit der Besitzenden

Diese menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen sind keineswegs nur historische Momentaufnahmen sozialer Missstände im 19. Jahrhundert; sie sind auch gegenwärtig in Ländern des globalen Südens und in Flüchtlingslagern auf Lesbos anzutreffen. Auch hier wird das Elend der Migranten mit großer Gleichgültigkeit aufgenommen, die Engels bereits zu seiner Zeit beobachten konnte und die ihn besonders empörte: „Überall barbarische Gleichgültigkeit, egoistische Härte. Diese brutale Gleichgültigkeit tritt umso widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr diese einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind.“

Engels Werk ist von bestürzender Aktualität. Die Arbeitslosigkeit steigt, Obdachlosigkeit und physische Not sind auch in wohlhabenden Ländern im öffentlichen Raum präsent – so lässt sich denn Engels Studie „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ auch mit Gegenwartsbezug lesen. Im London des 19. Jahrhunderts war die Verelendung besonders verbreitet: „Dort stehen jeden Morgen fünfzigtausend Menschen auf, ohne zu wissen, wo sie für die nächste Nacht ihr Haupt hinlegen sollen. Die Glücklichsten gehen in ein sogenanntes Logierhaus, wo sie für ihr Geld ein Unterkommen finden. Aber welch ein Unterkommen! Das Haus ist von oben bis unten mit Betten angefüllt. In jedes Bett werden vier, fünf, sechs Menschen gestopft – Kranke, Gesunde, Alte und Junge, Männer und Weiber, Trunkene und Nüchterne, wie es gerade kommt, alles bunt durcheinander“.

Revolution

Engels Studie macht deutlich, warum er und Marx zu einem gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung aufriefen. Die wachsende Verarmung und Entfremdung der Arbeiterklasse würde so weit anwachsen – so lautete ihre Vorstellung -, dass eine Revolution des Proletariats unumgänglich sei. Aus diesem Elend könne sich das Proletariat nur durch eine sogenannte „Expropriation der Expropriateure“ befreien – also durch die revolutionäre Übernahme des kapitalistischen Privateigentums. Mit dieser würde die Entfremdung der Arbeiterklasse beendet, eine Umgestaltung der Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit mit sich bringen und „einen menschlichen Menschen“ schaffen. „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll“, schrieben Engels und Marx, „ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“