Mensch im Ausgang einer Höhle
andreiuc88/stock.adobe.com
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Erbe

„Höhlenkompetenz“ hilft in der Pandemie

Nicht alle leiden in gleicher Weise unter einem erzwungenen Rückzug, wie eine Befragung von Studierenden aus dem Frühjahr bestätigt. Wie gut man damit umgehen kann, liegt auch an der „Höhlenkompetenz“, die Menschen schon vor Zehntausenden Jahren durch schwere Zeiten brachte, so die These eines Kommunikationsforschers.

Die Höhle kann ein Raum sein, der beispielsweise vor wilden Tieren schützt; man kann sich aber auch darin eingesperrt fühlen, wenn man nicht mehr rausgehen kann, weil es draußen eiskalt oder unwirtlich ist, wie das etwa während der letzten Eiszeit oder zu Zeiten anderer Umweltkatastrophen wie z.B. Vulkanausbrüchen manchmal notwendig war. Solche ambivalenten Lebenserfahrungen aus der fernen Vergangenheit – die unsere Vorfahren mitunter an den Rand ihrer Existenz gebracht haben – spiegeln sich heute in den gemischten Gefühlen angesichts der pandemiebedingten Freiheitsbeschränkungen, meint Jürgen Grimm von der Universität Wien.

Damals musste der Mensch eine bestimmte „Höhlenkompetenz“ entwickeln, um durch die karge Zeit der Entbehrungen zu kommen. „Überlebt haben diejenigen, denen es gelang, ihre Depression und ihre Paranoia zu zähmen, die sie mit Sicherheit entwickelten haben. Immerhin sind etwa 95 Prozent der Bevölkerung damals gestorben“, erklärt Grimm gegenüber science.ORF.at. Am besten gelang das jenen, die ihre Vorstellungskraft positiv nutzen und so dem Wahnsinn widerstehen konnten.

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Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell am 2.12. um 13:55

Langfristig habe dies der ganzen Art das Überleben gesichert und einige wichtige Fortschritte beschert: z.B. die Kunst – mit ihr konnten die Menschen Vorstellungen sichtbar machen, außerdem ermöglicht sie einen Perspektivenwechsel; oder die Perfektionierung von Werkzeugen, denn man hatte viel Zeit zum Ausprobieren und Tüfteln. Außerdem entwickelte sich der Mensch damals zum Transzendenzwesen, das eine Behausung zumindest im Geiste jederzeit verlassen kann. „Es gab gewissermaßen eine Dialektik zwischen Verengung im Innenraum und einer Erweiterung des Bewusstseins, das könnte man auch inneres Wachstum nennen“, so Grimm.

Test für Höhlenkompetenz

Ebendiese Fähigkeiten können auch heute helfen, wenn Menschen aufgrund einer Pandemie am besten ihr Haus nicht verlassen sollten. Oder anders ausgedrückt: Mit entsprechender Höhlenkompetenz kommt man besser durch einen Lockdown. Kompetente Bewohner haben ihre Ängste und Aggressionen im Griff. Gegen den Mangel an äußeren Reizen wissen sie sich zu helfen, etwa durch Brotbacken, Malen und Meditieren. „Auch Netflix würde ich dazuzählen“, meint Grimm.

Höhlenmalerei in der Niaux Höhle in Frankreich
AFP/REMY GABALDA
Höhlenmalerei in der Niaux Höhle in Frankreich

Inwieweit es den heutigen Menschen gelingt, die inneren Potenziale der Kaltzeit zu mobilisieren, war Ausgangspunkt einer Befragung, die Grimm und sein Team im heurigen Juni mit 607 österreichischen Studentinnen und Studenten – alle in einer vergleichbar gesicherten Lebenslage – durchgeführt haben. Der dafür entwickelte Test zur Höhlendisposition soll ausloten, auf welche Weise die Höhlensituation erlebt wird, verursacht sie Angst und Leid oder akzeptiert man sie? Überwiegen negative Deutungsmuster oder gibt es auch eine positive Höhlenfantasie?

Tatsächlich ließen sich in den Daten die Spuren des archaischen Denkens ausmachen: Höhlenkompetenz auf der einen, Höhlenpathologie – wie die Forscher das negative Erleben zusammenfassen – auf der anderen. Wie der Test zeigt, zählt die Mehrheit – also etwa zwei Drittel – zu den Kompetenten, durch Corona habe die Höhlenkompetenz sogar zugenommen. „Aber es gibt auch Menschen, die die Situation als Gefängnis erleben und als Freiheitsberaubung“, erklärt der Forscher. Man begegnet ihnen z.B. auf den derzeit häufigen Demonstrationen gegen die CoV-Maßnahmen. Sie glauben auch häufiger an Verschwörungstheorien – denn damit kann man zumindest einen Schuldigen für das ganze Elend ausmachen. „Die Irrationalität ist gewissermaßen die Schattenseite der menschlichen Fantasiebegabung“, meint Grimm.

Kompetenz fördern

Wie gut die Befragten durch die Isolation kamen, war dabei von wenigen Faktoren abhängig. Die kompetenten „Höhlenbewohner“ hatten ein differenziertes Weltbild und vor allem sehr viel Empathie. Die Fähigkeit, sich in andere reinzuversetzen, Rücksicht zu nehmen, das helfe auf engem Raum, aber auch weit darüber hinaus. „Mit der Empathie kommt automatisch mehr ‚Welt‘ in das öde Höhlenleben“, schreibt Grimm in seinem Bericht. Die Gestaltung des Soziallebens werde damals wie heute in der Regel von den empathisch überdurchschnittlich Begabten übernommen, oft sind das Frauen. Neben dieser zwischenmenschlichen Komponente sei es vor allem wichtig, die Fantasiefähigkeit in kreative Prozesse zu stecken und damit seine Vorstellungskraft zu kultivieren.

Könnte die Höhlenkompetenz die Menschheit heute wieder in ähnlicher Weise vorwärtsbringen wie es vor Zehntausenden Jahren geschah? „Ganz bestimmt“, meint Grimm. „Das gesteigerte Bewusstsein, Dinge in größeren Zusammenhängen zu denken, könnte uns auch nach der Pandemie zugutekommen“. Immerhin gebe es z.B. schon Umfragen, die zeigen, dass die Bereitschaft, sich mit der Klimakatastrophe zu beschäftigen, wächst.

Damit während der andauernden Pandemie die Kompetenz und nicht die pathologischen Züge zunehmen, bräuchte aber auch Unterstützung, betont Grimm: Zum einen ganz praktische Hilfe, z.B. wenn Menschen zuhause zwischen Kindern, Haushalt und Beruf aufgerieben werden. Der Kommunikationsforscher plädiert aber auch für mehr Kunst und Kultur, die eine ganz wichtige Systemfunktion hätten. „Auch Fernsehen und Netflix sind eine Möglichkeit der Fantasiebewirtschaftung, aber wir brauchen da mehr.“ Er vermisse bei aller notwendigen Vorsicht Ideen sowie politischen Willen, damit auch kulturelle Erlebnisse bald wieder möglich werden.