Internationales Jugendtreffen in Wien, Juli 1929: Delegation junger Sozialdemokraten aus der CSR marschiert auf der Ringstraße, im Hintergrund Parlament und Rathaus
Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung
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Zeitgeschichte

Das Rote Wien als „Zweite Moderne“

Fast tausend Seiten, 280 Originaltexte von A wie Alfred Adler bis Z wie Stefan Zweig – dazu unbekannte und wieder entdeckte Autoren und Autorinnen: Ein neues Buch hat Schlüsseltexte zum Roten Wien gesammelt und die Realität gewordene Utopie vor 100 Jahren damit zugänglich gemacht wie selten zuvor.

Das Rote Wien sei Ausdruck einer „Zweiten Wiener Moderne“ gewesen, so eine zentrale These der drei Herausgeber, dem Historiker Ingo Zechner, dem Politikwissenschaftler Georg Spitaler und dem Literaturwissenschaftler Rob McFarland. Warum Evidenz in der Politik keine Erfindung der Coronavirus-Zeit ist und warum die Allianz von Bürgertum und Arbeiterbewegung vor 100 Jahren (vorübergehend) so erfolgreich war, klären sie in einem science.ORF.at-Interview.

science.ORF.at: Das Rote Wien ist seit Kurzem rosarot, deshalb eine spekulative Frage zu Beginn: Wie hätten sich die Begründer des Roten Wien zu einer liberalen Partei wie NEOS verhalten?

Georg Spitaler: Sie hätten zunächst die Genossen gefragt: Freunde, wo ist unsere absolute Mehrheit geblieben? Wir dürfen nicht vergessen, dass die SDAP in Wien bis zu 60 Prozent der Stimmen hatte. Aber Spaß beiseite: Einerseits könnte man sagen, dass die Sozialdemokratie schon in der Monarchie ein verspäteter Nachvollzieher des in Österreich schwach ausgebildeten Liberalismus war, etwa wenn es um die Durchsetzung des Rechtsstaats und den hohen Stellenwert der Bildung ging. Viele Führungsfiguren der Partei kamen als Intellektuelle aus dem aufgeklärten, gesellschaftspolitisch liberalen Bürgertum. Im Bemühen um die Schulreform, etwa der Einheitsschule, wie die Gesamtschule damals genannt wurde, trafen sich sozialistische und liberale Pädagogen.

Das Buch

Das Rote Wien. Schlüsseltexte der Zweiten Wiener Moderne 1919–1934, herausgegeben von Ingo Zechner, Georg Spitaler und Rob McFarland, De Gruyter Oldenbourg, 2020 (Leseprobe).

Cover des Buchs „Rotes Wien“
De Gruyter

Erarbeitet wurde die historische Textedition von einem 22-köpfigen Team im Rahmen eines mehrjährigen Forschungsprojekts, das vom Ludwig Boltzmann Institute for Digital History und vom Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung gemeinsam mit dem Forschungsnetzwerk BTWH durchgeführt und von der MA 7 der Stadt Wien unterstützt wurde.

Damals wie heute biss man sich allerdings die Zähne an der konservativen Mehrheit im Bund aus. Wirtschaftspolitisch sieht die Sache sicher anders aus: Das, was wir heute Neoliberalismus nennen, hatte eine seiner Wurzeln in der radikalen Gegnerschaft bürgerlicher Ökonomen wie Friedrich Hayek gegen die sozialistische Steuer- und Wohnbaupolitik des Roten Wien. Er schrieb in den 1920er Jahren Pamphlete gegen den Mieterschutz, den er als Hemmnis für den freien Markt sah. Stadtrat Breitner würde zu den NEOS also sicher sagen: Hände weg vom Gemeindebau!

Nicht nur, aber speziell in der Coronavirus-Zeit beruft sich die Politik gerne auf Evidenz: Welche Rolle hat evidenzbasierte Politik im Roten Wien gespielt – auch im Vergleich zu heute, wo die SPÖ-Vorsitzende eine Ärztin ist?

Ingo Zechner: Die Coronavirus-Pandemie hat den Begriff der Evidenz zurück in die politische Arena geholt, als dieser bereits verloren schien. Noch ist er aber nicht gerettet. Bis vor Kurzem schien es ja so, als ob zwischen „Fake News“ und „Alternative Facts“ kein Platz mehr für Evidenz sei. Die Chancen und Risiken der eigenen Gesundheit und des Überlebens der engsten Angehörigen wollen viele aber offenbar doch nicht der göttlichen Vorsehung oder der sozialdarwinistischen Vermutung überlassen, ohnedies zu den Stärkeren zu zählen. Wenn man fliegen will, besteigen die meisten doch lieber ein Flugzeug als einen fliegenden Teppich.

Die voreilige Verabschiedung der Evidenz ist zum einen Ausdruck eines intellektuellen Versagens der Postmoderne, die den Begriff der Wahrheit ohne Not preisgegeben hat, zum anderen ein Effekt der rasenden Geschwindigkeit, mit der sich Unsinn durch digitale Medien verbreitet. Wittgensteins Tractatus dreht sich um die Frage, wie sich sinnvolle von unsinnigen Sätzen unterscheiden lassen. Zu den großen Leistungen des Roten Wien zählt es, den Unsinn zugleich als intellektuelles und als politisches Problem identifiziert zu haben. Ganze Disziplinen sind daraus hervorgegangen: vom Logischen Empirismus bis zur Empirischen Sozialforschung. Auf höchstem Niveau haben einige ihrer besten Beispiele die intellektuelle und die politische Dimension miteinander vereint: von Otto Neuraths Bildstatistik mit ihrem Anspruch, komplexe Sachverhalte intuitiv anschaulich und kommunizierbar zu machen, bis zu Käthe Leichters Entwicklung neuer Untersuchungsmethoden, um eine empirische Grundlage für frauenpolitische Entscheidungen zu schaffen.

Was waren die Auswahlkriterien der Texte? Neben erwartbaren Autorinnen und Autoren befinden sich durchaus einige überraschende darunter …

Rob McFarland: Das haben wir schon früh entschieden: Das Rote Wien bestand nicht nur aus den altbekannten sozialdemokratischen Figuren. Die Institutionen, die Persönlichkeiten, die Bewegungen und vor allem die Medien im Roten Wien bildeten ein reiches, widersprüchliches Diskursfeld. Dieses grandiose Sozialexperiment ist unzertrennlich mit der Wirtschaft und Kultur seiner Zeit, aber auch mit seinen politischen Gegnern verbunden: mit dem politischen Katholizismus, dem Antisemitismus, dem Faschismus. Der toxische Korneuburger Eid der Heimwehr wird zum Beispiel nur wenige Wochen vor der Eröffnung des Karl-Marx-Hofs und der Veröffentlichung von Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ und Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“ geschworen. Wir haben versucht, gerade solche Texte mit einzubeziehen, die die überwältigende Vielfalt und Energie dieses Diskursfeldes zeigen. Dass die Nazi-Verteidigerin und Pen-Club Vorsitzende Grete von Urbanitzky auch noch einen lesbischen Roman verfasste, zeigt die unberechenbaren Verbindungen im Roten Wien. Solche Texte gehören zum Projekt genauso wie kanonische Schriften des Austromarxismus, etwa das „Linzer Programm“.

Menschenmassen vor dem Parlament im November 1918
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Menschenmassen vor dem Parlament im November 1918

Waren Sie bei Ihrer Arbeit selbst überrascht, was damals „alles möglich war“, also welche utopischen Gehalte zirkulierten?

Spitaler: Auf jeden Fall. Dieser Aspekt des Möglichkeitsraums, der sich bei der Lektüre wieder öffnet, war für uns ganz zentral. Rob McFarland hat dazu Walter Benjamins Begriff der „Jetztzeit“ ins Spiel gebracht: Es gibt in einigen dieser Texte Begriffe und Argumente, die durch die Zeit – und über den traumatischen Bruch des Faschismus hinweg – scheinbar direkt zu uns sprechen. Diese flüchtigen Bilder sind gerade heute aktuell, wo es so schwer scheint, eine emanzipative Zukunftsvorstellung zu entwickeln und im Hier und Jetzt nach Möglichkeiten zu suchen, diese zu verwirklichen. Das gilt zum Beispiel für feministische Pionierinnen der Empirischen Sozialforschung wie Käthe Leichter und Maria Jahoda, die inzwischen zum Glück sehr bekannt sind, aber auch für Autoren wie Ernst Fischer, den ich persönlich für mich durch die Arbeit am Buch wiederentdeckt habe. Fischer wurde als Intellektueller später durch die Mangel des Stalinismus gedreht, aber seine hellsichtigen Texte zu Kulturpolitik und Fragen der Jugend, die er bis 1934 als kritischer Autor am linken Rand der Partei verfasste, sind wirklich frappant.

Sie versuchen in dem Buch mit der „Zweiten Wiener Moderne“ einen neuen Begriff zu prägen – warum? Die bekannte „erste Moderne“ von der Jahrhundertwende lag ja nicht lang zurück. Wodurch unterscheiden Sie die beiden?

Zechner: Es ist wie bei Marcel Proust: Im letzten Band seiner Suche nach der verlorenen Zeit hat sich die Welt radikal verändert. Nach dem Ersten Weltkrieg ist nichts mehr, wie es war. An den Menschen und Dingen, die den Krieg scheinbar unversehrt überlebt haben, sieht man das besonders deutlich: Die Menschen fallen aus ihrer Rolle, die Dinge sind nicht mehr an ihrem Platz. In der Geschichte der Wiener Moderne, aber auch in der Geschichte der frühen österreichischen Sozialdemokratie hat man zu lange auf die Kontinuitäten geblickt und dabei den radikalen Epochenbruch um 1918 übersehen. Viele der im Sourcebook versammelten Autorinnen und Autoren haben in beiden Epochen publiziert. Freud, Schnitzler, Musil sind nur die prominentesten Beispiele. Aber die Themen haben sich verändert. Wir würden so weit gehen zu sagen, dass sich mit der neuen Zeit ein gesamtes intellektuelles Koordinatensystem verschoben hat: vom Individuum zur Gesellschaft, von der individuellen Psyche zu jener der Massen, vom Körper des Einzelnen zum sozialen Körper, vom Begehren zum Bedürfnis, von einer vertikalen zu einer horizontalen Ordnung.

Viele Protagonisten dieser „Zweiten Moderne“ waren alles andere als Proletarier. Woher rührte diese Allianz von Teilen des (Bildungs)Bürgertums mit der Arbeiterbewegung? Und warum gibt es sie nicht mehr?

Zechner: Die gefühlte und die tatsächliche Klassenzugehörigkeit sind zwei verschiedene Dinge. Angehörige einer Klasse orientieren sich oft daran, was sie insgeheim gerne wären, nicht daran, was sie sind. Die Versprechen und die Leistungen des Roten Wien waren eng mit der Arbeiterbewegung und der Arbeiterklasse als gestaltender Kraft verknüpft. Für einen kurzen historischen Moment bot das der Arbeiterklasse die Chance, mit sich selbst im Reinen zu sein und die gefühlte mit der tatsächlichen Klassenzugehörigkeit in Einklang zu bringen. Bürgerliche Intellektuelle ergriffen die Chance, zur Avantgarde der Gesellschaft zu zählen und innerhalb dieser Avantgarde eine führende Rolle einzunehmen. Letzteres gab und gibt es immer wieder: 1968, in der Neuen Linken, in der Ökologiebewegung. Allerdings erschien hier die Arbeiterbewegung nicht mehr als Motor, sondern als Bremse der Veränderung. Und die Arbeiterklasse war nur noch eine Schimäre.

Otto Neurath als Vortragender vor dem ersten Jahrgang 1926 der Arbeiterhochschule im Maria Theresien-Schlössel in Döbling.
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Der Nationalökonom Otto Neurath als Vortragender vor dem ersten Jahrgang 1926 der Arbeiterhochschule in Döbling

Es gibt aber auch eine einfachere, der ersten nicht widersprechende Erklärung: Das Gesellschaftsmodell des Roten Wien war in vielerlei Hinsicht ein zutiefst bürgerliches, im besten Sinn dieses Wortes. Zugespitzt könnte man sagen: Die Sozialdemokratie war die letzte bürgerliche Kraft, als die bürgerliche Klasse mit dem Faschismus zu kokettieren begann. Viele Gegner des Roten Wien waren einfach so grauslich, dass man gerade als wohlerzogener bürgerlicher Mensch mit ihnen nichts zu tun haben wollte.

Ein Kapitel widmet sich dem Amerikanismus: Waren die USA im Roten Wien eher ein abschreckendes Beispiel oder doch auch eine Art Vorbild? Und in welchem Verhältnis steht das USA-Bild im Vergleich zur Sowjetunion, von der sich die Austromarxisten abgrenzten?

McFarland: Das Titelbild zum Kapitel „Amerikanismus“, eine Zeitungswerbung von 1926 (siehe Abbildung unten), zeigt gerade diese Ambivalenz. Die Silhouetten des Stephansdoms, der Karlskirche, des Riesenrads im Prater verkümmern unter einem riesigen Wolkenkratzer, der das Stadtbild überwuchert. „Amerika in Wien!“ heißt es im Titel. Das Bild soll aber positiv verstanden werden. Ein Wiener Modehaus behauptet, durch „amerikanische Geschäftsmethoden“ das Beste „zu fantastischen Preisen“ zu bieten. Also schon ein abschreckendes Beispiel, aber gleichzeitig irgendwie verlockend. Lustig ist, dass man die geschätzten Kunden bittet, in den Morgenstunden einzukaufen, um den „Riesenandrang“ der Nachmittagsstunden zu vermeiden. Die Mariahilfer Straße wird also sofort zu Manhattan, wenn die amerikanischen Businessmethoden importiert werden.

Zeitungswerbung von 1926, die die Silhouetten des Stephansdoms, der Karlskirche, des Riesenrads im Prater und einen riesigen Wolkenkratzer zeigt, der das Stadtbild überwuchert.
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Die Frage zum USA-Bild des Roten Wien wird interessant, wenn es um die Sowjetunion geht. Otto Bauer und die ganze austromarxistische Leitung widerstehen den Verlockungen Henry Fords und des sogenannten „weißen Sozialismus“, der die amerikanischen Industrietheorien als positives Modell betrachtet. Lenin, Trotzki und sogar Stalin werden dagegen vom Amerikanismus in den Bann gezogen und hoffen mit den angeeigneten Organisationsmethoden die Amerikaner eines Besseren zu belehren. Dagegen wettert Bauer in einer grandiosen Schrift über die „Fehlrationalisierung“, die den Fabrikboss bereichert und die Gesellschaft verrecken lässt.

Spitaler: Das Bild der Sowjetunion war im Roten Wien ambivalent. In den sozialdemokratischen Medien wird Russland durchaus positiv als Beispiel für die Möglichkeiten des Sozialismus präsentiert. Kulturelle Exportartikel wie die sowjetischen Filme kamen gut an. Intern und im internationalen politischen Verkehr war man aber bald um Abgrenzung von der kommunistischen Konkurrenz bemüht. Und man war vor allem der Kritik von Links ausgesetzt, auf den demokratischen Parlamentarismus statt auf die Revolution gesetzt zu haben.

Das Buch ist auch auf Englisch erschienen: Welchen Stellenwert hat das Rote Wien heute an US-Unis – in einem Land, in dem mit der „Gefahr des Sozialismus“ Präsidentschaftswahlen bestritten werden?

McFarland: Gerade US-Unis sind jene Institutionen, wo man in den USA eine ausgeprägte und altehrwürdige linke Kultur finden kann. Das Rote Wien wird regelmäßig in akademischen Diskussionen heraufbeschworen, besonders wenn es um den Wohnbau geht. Mit der Präsidentschaftskandidatur von Bernie Sanders rückte der Begriff „Social Democracy“ immer öfter ins Gespräch. Das Rote Wien wird oft als Beispiel genannt, wenn man die gelungene Sozialdemokratie vom Schreckgespenst Kommunismus – so wird es von der Mehrzahl amerikanischer Bürger verstanden – unterscheiden möchte.