Hans Baldung Grien, Die drei Parzen, 1513 (Holzschnitt). ETH-Bibliothek Zürich, Graphische Sammlung
Gastbeitrag

Schicksal ohne Ende

Der von Wissenschaft geprägte Fortschritt der Moderne hat nicht den Glauben an das Schicksal verringert – im Gegenteil. An die Stelle der alten Schicksalsmächte sind aber neue getreten, schreibt der Kulturwissenschaftler Alexander Draxl in einem Gastbeitrag.

Der Glaube an Schicksalskräfte begleitet die Menschheit seit langer Zeit – sei es in Form der drei antiken Schicksalsgöttinnen, des blinden, unbeständigen Glücks oder als Willensausdruck eines allmächtigen Gottes. Mit Beginn der Moderne schien es damit ein Ende zu haben.

Porträtfoto von Alexander Draxl
Jan Dreer / IFK

Über den Autor

Alexander Draxl studierte Erziehungswissenschaft und Psychologie in Innsbruck. 2017 nahm er ein Doktoratsstudium der Germanistik an der Princeton University auf. Derzeit ist er IFK_Junior Fellow am Internationalen Zentrum für Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Am 9. Dezember berichtet er in einer IFK-Zoom-Lecture über sein Forschungsprojekt.

So hat der berühmte Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant 1798 das Schicksal ein antiquiertes „Hirngespinst“ genannt. Vielleicht konnte man in der Antike noch an dunkle Schicksalsmächte glauben; wer aber in einer aufgeklärten Gesellschaft weiterhin daran festhalte, müsse ein unkritischer, abergläubiger Mensch sein. Immerhin entstand mit der Aufklärungsphilosophie die Vorstellung vom selbstbestimmten und -denkenden Menschen, der das Schicksal in eigenen Händen hält.

Wiederkehr eines „Hirngespinsts“

In der Tat könnte man zur Annahme verleitet sein, dass die technischen und medizinischen Fortschritte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts das Überleben der Schicksalsidee noch unwahrscheinlicher gemacht hätten. Warum sollte ein Mensch, der sich mit dem Flugzeug über die Wolken erhebt, an höhere Kräfte glauben? Wieso sollte eine Gesellschaft, die den menschlichen Körper mit Röntgenstrahlung durchleuchtet, glauben, dass dunkle Mächte ihr Leben bestimmen? Der österreichische Dramatiker Johann Nestroy brachte es 1850 auf den Punkt: „Nach den Grundsätzen des Fortschritts, sollt’ es schon lang gar kein Schicksal mehr geben.“

Dass es so etwas wie Schicksal in der Moderne aber trotzdem gibt, zeigt ein schneller Blick in die Geschichtsbücher: Um 1900 war das „Hirngespinst“ nicht einfach abgetan, sondern in aller Munde. Nicht zuletzt wirkten die technischen Errungenschaften der Moderne selbst verzaubernd, wie der Philosoph Martin Heidegger bemerkte: Die neuen Technologien inspirierten neue Träume vom Menschenmöglichen.

Aber nicht nur im technischen Fortschritt kehrte die Schicksalsidee zurück. Besonders als Metapher einer nationalistischen Politik fand der Schicksalsbegriff im frühen 20. Jahrhundert wieder Verwendung. Der Schriftsteller Hermann Hesse etwa beobachtete kritisch, dass mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs alle Menschen „das Schicksal rufen“ hörten. Im Nationalsozialismus wurde die Vorstellung vom deutschen Kollektivschicksal sogar zur Idee einer deutschen „Blut- und Schicksalsgemeinschaft“ (Alois Hudal) radikalisiert.

Giorgio Ghisi nach Giulio Romano, Le tre Parche (Clotho, Lachesis e Atropo), 1558–1559 (Kupfergravur). Metropolitan Museum, New York City, USA.
Die drei Moiren – Schicksalsgöttinen – in der griechischen Mythologie: Klotho, Lachesis e Atropos; Kupfergravur Giorgio Ghisi nach Giulio Romano, 1558–1559. Metropolitan Museum, New York City, USA

Klinische Metapher

In ähnlichen Kontexten begegnet uns der Schicksalsbegriff auch in der Psychiatrie um 1900: Bei Psychiatern der Jahrhundertwende, wie etwa Eugen Bleuler und Emil Kraepelin, wurden Erbanlagen und Schicksal immer wieder in Zusammenhang gebracht. Dadurch wurde der Schicksalsbegriff zu einer klinischen Metapher, die unter anderem antisemitische, rassistische und sexistische Theorien und Praktiken rechtfertigte. Diese Art von Psychiatrie verstand nun „Vererbung als Schicksal“ (Gerhard Pfahler).

Die Zeit um 1900 präsentiert sich also als eine Epoche, in der man einerseits an das Schicksal nicht mehr richtig glauben wollte; andererseits aber doch davon angezogen wurde. Diese widersprüchliche Faszination wurde zum Interessensgegenstand vieler Forscher der Jahrhundertwende, die das Überleben des Schicksals in der Moderne als Anlass nahmen, sich die Frage zu stellen, was die Schicksalsmächte der Moderne sind. Zu diesen Forschern gehörten, neben anderen, Walter Benjamin, Sigmund Freud und Georg Simmel.

Schicksalslüsternheit der Moderne

Konkret stellte sich Benjamin die Frage, warum ausgerechnet die Moderne dieser „Schicksalslüsternheit“ verfiel: Warum lebt das Schicksal nach – nicht nur bei schummrigem Kerzenlicht im Zelt einer Wahrsagerin, sondern offensichtlich auch in Technik, Politik und Naturwissenschaften? Ähnlich wie die Psychiatrie seiner Zeit stellte sich Freud unter dem Stichwort ‚Triebschicksal‘ die Frage nach der Schicksalskraft der Erbanlagen, bezog diese jedoch nicht auf einen rassistischen Diskurs, sondern fragte, was man für das Individuum unter diesen Annahmen in der Psychotherapie überhaupt erreichen könne. Simmel wiederum stellte sich die Frage, warum die Humanwissenschaften in der Moderne einen solchen Hang zum Fatalismus haben – und ob es dagegen einen modernen Schicksalsbegriff gebe, der nicht gleichbedeutend mit Fatalismus sei.

Luca Cambiaso, Le tre Parche, 1527-1585 (Zeichnung). Metropolitan Museum, New York City, USA
Die entsprechenden Schicksalsgöttinen (Parzen) in der römischen Mythologie: Nona, Decima und Parca; Zeichnung von Luca Cambiaso, 1527-1585, Metropolitan Museum, New York City, USA

Kein Ende abzusehen

Totgesagte leben bekanntlich länger. Und tatsächlich ist das Schicksal ein Begriff, den wir bis heute nicht losgeworden sind. Verwendung findet er beispielsweise in der Medizin, im Kontext der Genetik, oder in der Soziologie als Metapher für die Prägung durch soziale Milieus. Aber ebenso in der Politik: So hat die deutsche Bundeskanzlern Angela Merkel die EU unlängst als „Schicksalsgemeinschaft“ bezeichnet, die sich angesichts der aktuellen Pandemie auf das Gemeinsame besinnen müsse.

Es gibt also etwas an diesem Begriff, das relevant bleibt und fortfährt, uns zu faszinieren. Ein Faszinationsmoment am Schicksalsbegriff ist sicherlich, dass er Ereignissen eine besondere Bedeutung zuspricht und vieles dadurch erklärbar scheint.

Dennoch bleibt ungewiss: Was ist Schicksal? Und was nicht? Wo findet die Erklärungskraft dieses Konzepts ein Ende? Vielleicht ist es also nicht damit getan, das Schicksal als „Hirngespinst“ abzutun. Um das paradoxe Überleben des Schicksals in der Moderne zu verstehen, gilt es, seiner Faszinationsgeschichte nachzugehen.