Ein Foto und ein Schriftstueck des Schriftstellers Elias Canetti 2005 im Museum Strauhof in Zürich
ASSOCIATED PRESS
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Gastbeitrag

Mit Canetti das Jahr 2020 reflektieren

2020 ist das Jahr der Ausnahmezustände, das Coronavirus hat zu kollektiven Grenzerfahrungen geführt und Zeithorizonte erschüttert. Warum Elias Canettis Drama „Die Befristeten“ gerade in der Adventszeit zur Reflexion dieses seltsamen Jahrs einlädt, erklärt der Germanist Christian Zolles in einem Gastbeitrag.

Seit Beginn der Maßnahmen gegen Covid-19 ist die Pandemie philosophisch reflektiert und politisch gedeutet worden. Ab Ende Februar ging es Schlag auf Schlag: Den Anfang machte der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der im ersten Lockdown den unwiderruflichen Verlust unserer letzten autonomen Denk- und Handlungsräume und den totalitären Triumph der Staatsmacht sah. Darauf reagierten die Kollegen Jean-Luc Nancy und Roberto Esposito, die die Alternativlosigkeit der konkreten Maßnahmen aufzeigten und im Corona-Kontext die kritische Auseinandersetzung mit den Mechanismen der Globalisierung, des Neoliberalismus und der biopolitischen Regierungsformen einforderten.

Über den Autor

Christian Zolles forscht und lehrt am Institut für Germanistik der Universität Wien und hat mehrere Werke über die Kulturgeschichte der Apokalypse publiziert.

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Slavoj Žizek legte in der Debatte in gewohnter Weise noch eins nach und sah die echte philosophische Revolution der Ereignisse darin, dass das Virus den kapitalistischen Wahnsinn in seiner gesamten Tragweite aufdecke und auf globaler Ebene das Verhältnis von Mensch und Gemeinschaft unter existenziellen Blickpunkten neu ausrichten könnte.

„Ausnahmezustand“ der „Befristeten“

All die genannten Interpretationen kreisten zentral um Agambens Konzept des „Ausnahmezustandes“: um jenen Moment, in dem der „Normalzustand“, die gewohnten Abläufe einer Gesellschaft, fundamental gestört wird. In diesem Augenblick wird dann deutlich sichtbar, an welchen Maßstäben sich der Alltag gewöhnlich ausrichtet, wer nun den Anspruch erheben kann, als letzte Entscheidungsinstanz über die Gesamtgesellschaft aufzutreten, und wie es mit der Solidarität innerhalb der Bevölkerung beschaffen ist. Wenn man bestimmte Entscheidungskonflikte des letzten Jahres Revue passieren lässt, findet man dafür sehr anschauliche Beispiele sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene.

Nun lässt sich die keineswegs nur politische, sondern vor allem auch kulturgeschichtliche Dimension des „Ausnahmezustandes“ überhaupt nicht so einfach erschließen. Tatsächlich geht es in der Debatte, wie sie von Agamben & Co geführt wurde, nämlich um nichts weniger als um die Frage nach der richtigen Deutung eines europäischen Kulturerbes und nach dem Verhältnis, das jede und jeder Einzelne zu den mehrfach aktiven (staatspolitischen, ökonomischen, medialen, wissenschaftlichen) Regierungsformen einnimmt.

Wie bei vielen Themen, die in der öffentlichen Diskussion viel zu kurz kommen, kann ein „kulturverliebter“ Griff ins Bücherregal zur tieferen Reflexion führen. Für das Jahr 2020 sind das vielleicht gar nicht so sehr die einschlägigen Pest-Romane als vielmehr ein kurzes Drama eines Autors, der uns in puncto existenzieller (Macht-)Fragen nach wie vor enorm viel zu sagen hat. In seinem Stück „Die Befristeten“ (Leseprobe) hat Elias Canetti 1952, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah, nachgestellt, wie sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft allgemein denken lässt. Einer besonderen Bedeutung kommt darin dem Moment einer kollektiven Grenzerfahrung zu, der Erfahrung der Auflösung aller sozialer Normen. Es ist diese „gesetzlose“ (anomische) Erfahrung, die in engem Zusammenhang mit der Adventszeit – mit der Erinnerung an die Geburt und der Erwartung der Wiederkehr Christi – zu sehen ist.

Vollkommene Sicherheit des Todeszeitpunkts

„Wie könntest du je etwas Ernsteres geschrieben haben?“, vermerkte Canetti in seinen Aufzeichnungen zum Drama. Es reiht sich nahtlos ein in seine lebenslange obsessive Beschäftigung mit der Sterblichkeit, wie in „Das Buch gegen den Tod“ – (Leseprobe) eindrücklich dokumentiert. „Die Befristeten“ handelt von einer Gesellschaft, die am Sterbealter der Individuen ausgerichtet ist: Man trägt Namen wie Siebzig, Zweiunddreißig, Zehn oder – wie der spätere Rebell – Fünfzig. Es herrscht vollkommene Sicherheit, was den eigenen Tod betrifft: Man weiß von Kindheit an, wie alt man werden wird, und teilt sein Leben danach ein. Im Gegensatz zum öffentlichen Sterbealter hält jeder sein aktuelles Lebensalter hingegen geheim: Erst dem Totenbeschauer kommt es zu, zu bestätigen, dass das „heilige Gesetz“ im rechten Augenblick zugeschlagen hat.

Die Altersordnung bestimmt sämtliche soziale Interaktion. Diejenigen, die ein hohes Namensalter tragen, bestimmen über diejenigen, die ein geringes oder mittleres Alter im Namen tragen. Im Bewusstsein des Überlebens können sie ihre Zeit anders kalkulieren und sich alles herausnehmen. Sie sind es auch, die die Zukunft der Gesellschaft gestalten.

Szenenausschnitt von der Ausführung „Die Befristeten“ am Schauspielhaus Bochum, Juni 2020
Birgit Hupfeld
Szenenausschnitt von der Ausführung „Die Befristeten“ am Schauspielhaus Bochum, Juni 2020

Fünfzig, dessen Zeit am Ablaufen ist, stellt diese Gesellschaftsordnung nun infrage: Was, wenn das alles nur Aberglaube wäre? Was, wenn man das Alter seines Namens überleben könnte? Wenn der Totenbeschauer immer nur so täte, als würde der von Geburt an festgelegte Todeszeitpunkt tatsächlich eintreten? Dann wäre man mit dem Umstand konfrontiert, dass man jederzeit – früher oder später als gedacht – ableben könnte, jederzeit der letzte Augenblick eintreten könnte, die Zeit wäre für alle in fast unerträgliche, kraftvolle Spannung gesetzt. Und die Machtverteilung in der Gesellschaft würde revolutioniert werden.

Fünfzig wird zum Anführer der Revolution und als Retter gefeiert, der die Bevölkerung vom „heiligen Gesetz“ und Sterbedatum befreit hat. Ein kurzer ekstatischer Zustand totaler sozialer Gesetzes- und Regellosigkeit tritt ein. Bald aber macht sich ein ungehemmter Individualismus, Narzissmus und Überlebenstrieb breit. Das elitäre „heilige Gesetz“ wird vom profanen Gesetz der Stärkeren abgelöst. Fünfzig muss einsehen, dass die Bevölkerung nicht bereit ist, auf Basis kollektiver existenzieller Erfahrungen ein herrschaftsfreies Miteinander zu führen.

Advent ist eine „Zwischenzeit“

Die Adventszeit nun kann als Relikt einer derartigen kollektiven existenziellen Erfahrung im Urchristentum angesehen werden, geht es darin doch ebenfalls zentral um das Leben nach dem Tod. Giorgio Agamben hat sie in seinem „Kommentar zum Römerbrief“ als „Zwischenzeit“ charakterisiert: eine radikal neue Zeiterfahrung, die sich damals mit dem Eintreffen des jüdischen Messias (christós) in der Person Jesu für die Jünger eröffnet habe.

Man kann so die Anfänge des Christentums als den Beginn einer neuen zeitlichen Ära begreifen: Während im Judentum die Erscheinung des Messias als Erlöser von aller irdischer Unterdrückung immer nur prophezeit worden war und niemals eingetreten ist, ist dieser einmalige Augenblick (kairós) für die Christen unumkehrbar gekommen. Nach dem Wirken Jesu, seiner Kreuzigung und seiner Wiederauferstehung und Entrückung – dem christlichen Symbol der Überwindung des Todes – habe man auf seine unmittelbare Rückkehr (gr. parousía, lat. adventus) gewartet: Man sei in eine messianische, adventistische Zeit eingetreten. Dies sei der radikale Impuls gewesen, mit dem bisherigen Leben abzuschließen und sich in einem Zustand der Gesetzlosigkeit (anomía) selbst zu finden. Verbunden sei dies mit der Entwicklung vorher ungeahnter rebellischer Kräfte gewesen.

Warten wird zum Programm

Im Spannungsfeld zwischen begonnenem Ereignis und dessen Abschluss, sozusagen in ständiger Suspense, hat sich die katholische Kirche institutionalisiert. Der messianische Augenblick, der vollkommen Neues verspricht, wird nicht mehr erwartet wie im Judentum, sondern ist bereits – seit Paulus: für alle Menschen – eingetreten und wartet auf seine Vollendung. Das Warten wird zu einem Programm und die existenzielle Erfahrung zunehmend in ein Jenseits verschoben. Dies ist gleichzeitig der Beginn einer anderen, einer „pastoralen“ Machtentfaltung im Diesseits.

Der christliche Advent ist also gewissermaßen ein auf Dauer gestelltes Wiedererwarten des („gesetzlosen“, anomischen) messianischen Augenblicks. Als solches hat es sich im Kalender festgesetzt und wird in einem mittlerweile von Turbokapitalismus angetriebenen Alltag – manche sagen auch: als sein humanistisches Feigenblatt – von Generation zu Generation weitergetragen.

Augenblicke des Überlebens

Canetti zufolge ist die Bevölkerung der existenziellen Erfahrung des „Augenblicks“ tatsächlich in keiner Weise gewachsen. Die einzelnen Individuen sind viel zu unmündig oder abgelenkt, um sich ausgehend von einer kollektiven Umsturzerfahrung abseits einer politischen oder religiösen Führerschaft zu emanzipieren, zu organisieren und eine alternative Geschichte zu beginnen. Es kommt zu einem Rückfall in eine scheinbar sichere Tradition, die aber hochgradig fiktiv ist und, auf Herrschaftsebene, immer wieder identitätspolitisch inszeniert wird.

Daran anschließend lässt sich auch die Bedeutung von Canettis zweitem großen Thema neben dem Tod, nämlich Masse und Macht, sehr gut begreifen. Wenn sich das Leben und Sterben in einem herrschaftsfreien Raum als eine Utopie herausgestellt haben, so lässt sich darauf eine Theorie der Macht als Macht der Überlebenden begründen: „Der Augenblick des Überlebens ist der Augenblick der Macht.“ Diesen Verdrängungsvorgang nahm Canetti sowohl auf gesellschaftlicher als insbesondere auch auf persönlicher Ebene wahr. Man reagiere angesichts des Todes anderer unbewusst mit Gefühlen der Genugtuung, selbst noch da zu sein.

Elias Canetti bei der Überreichung des Literatur-Nobelpreises am 10. Dezember 1981 in Stockholm
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Elias Canetti bei der Überreichung des Literatur-Nobelpreises am 10. Dezember 1981 in Stockholm

Abwehr der „Befehlsstacheln“

Das ist bestimmt kein angenehmer Gedanke, aber einer, der Anlass zur Selbstreflexion gibt. Er kann auch insofern produktiv gemacht werden, als sich von ihm ausgehend der Charakter autoritärer Herrschaft sehr gut analysieren lässt. Je mehr ein politischer Anführer die selbstherrliche Erfahrung des Verdrängens und Überlebens anderer mache, desto despotischer und paranoischer die Machtausübung, desto mehr durchdringe sich der politische auch mit einem religiösen Anspruch der Allmacht. Canetti hat diese Tendenz innerhalb der modernen Demokratien luzide aufgezeigt: „(Der Überlebende) ist nicht ausgestorben, er wird nicht aussterben, solange wir nicht die Kraft haben, ihn klar zu sehen, in jeder Verkleidung, von welcher Glorie immer umstrahlt. (…) Wird es möglich sein, ihm im letzten Augenblick zu entkommen?“

Erneut also der Bezug auf den „Augenblick“: den Moment eines Klarsehens, der niemals nur den Fällen katastrophaler Ereignisse vorbehalten sein darf und eigentlich jederzeit möglich ist. Er regt den Mut zur Abwehr der unzähligen im Alltag in den Körper dringenden „Befehlsstacheln“ an: die „schwierigste Angelegenheit in der Moderne“, wie es in „Masse und Macht“ heißt. Dies wäre eine aktualisierte Deutung der ursprünglichen Adventszeit, die mit der traditionellen Auslegung gar so wenig gemein hat.

Ein letzter Rest von Religiosität

Canettis Anspruch an „Die Befristeten“ war, abseits von nationalen und kulturellen Vorprägungen, eine Darstellungsform für seine (und auch noch unsere) brennenden Lebensthemen zu finden: „Dieses Stück soll in jeder Sprache seine volle Identität bewahren.“ Das Stück solle es schaffen, sich über die Sprach- und Kulturgrenzen hinweg über die existenziellen und tabuisierten Dinge in erhabener klassischer Form verständigen zu können. Womöglich liegt in diesem internationalen Anspruch der Verständigung gerade eine letzte, und vielleicht auch die bedeutendste, utopische Spur der Adventszeit.

Und diese Spur führt eben auch an die Grenzen alles Religiösen: „Mein eigener Glaube, der darin in Erscheinung tritt, enthält genau das, was von allen Religionen übriggeblieben ist, nicht weniger, aber auch nicht mehr.“ Der „Rest“ von Religiosität, der das entscheidende ist, kann sich nicht mehr einfach an eine Tradition anlehnen; er lässt sich nur aus der aktuellen Gegenwart heraus deuten und erhält dadurch seine stärksten Impulse.

Diese sah Canetti gerade von den Grenzen der Zivilisation kommen: von den Paria der Gesellschaft, den Ausgestoßenen, den Exilierten, denjenigen, die keine offizielle Sprache besitzen und achtlos „wie die Fliegen“ sterben. Es ist eigentlich der Mensch, der schon im „Normalzustand“ im „Ausnahmezustand“ lebt (der „Homo sacer“ nach Agamben), von dem wir am meisten über uns und unsere Kultur lernen können. Weil an seiner Erscheinung nichts mehr haften bleibt, reflektiert sie alle „Befehlsstacheln“ und leitet sie ins Fleisch der Herrschaften zurück.