Passanten in Manaus, einige tragen Maske
AFP – MICHAEL DANTAS
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Coronavirus

Drei Viertel in Manaus infiziert

In der Stadt Manaus im Nordwesten Brasiliens ist nur sehr wenig gegen die Ausbreitung des Coronavirus unternommen worden. Das hat laut einer neuen Studie dazu geführt, dass sich bereits über drei Viertel der zwei Millionen Einwohner und Einwohnerinnen infizierten. Ob sich deshalb eine Herdenimmunität entwickelt hat, ist noch unklar.

Das berichtet ein Team um Ester Sabino von der Universität Sao Paolo in einer Studie, die soeben im Fachmagazin „Science“ veröffentlicht wurde. Manaus gebe ein Beispiel für das, was passiert, wenn man Sars-CoV-2 „fast ohne Gegenmaßnahmen laufen lässt“.

Besonders betroffenes Land

Brasilien zählt zu den Ländern mit der schnellsten Virus-Verbreitung, bisher gibt es mehr als 6,7 Millionen Infektionen und fast 180.000 Todesfälle (Stand: 10. 12.). Am stärksten betroffen ist der Bundesstaat Amazonas, dessen Hauptstadt Manaus ist. Am 13. März 2020 wurde hier der erste Sars-CoV-2-Fall bestätigt, danach explodierten die Zahlen. Im Mai starben viereinhalb Mal mehr Menschen als üblicherweise, die Bilder von hastig ausgebaggerten Massengräbern gingen um die Welt. Bis Juni aber sanken die Todeszahlen deutlich, und sie sind bis Oktober – dem Ende des Untersuchungszeitraums – auch relativ niedrig geblieben.

Wie sich das Infektionsgeschehen wirklich entwickelt hat, haben die Forscherinnen und Forscher anhand der CoV-Antikörper in 1.000 monatlich abgegebenen Blutspenden untersucht. Fanden sie im Blut der Spenderinnen und Spender im April erst bei fünf Prozent Antikörper, waren es im Juni bereits über 52 Prozent. Bis Oktober sank der Anteil wieder auf 26 Prozent – das liegt daran, dass Antikörper nach einiger Zeit wieder verschwinden können, was die Berechnung der Gesamtinfektionsrate erschwert. Die Forscherinnen und Forscher schlossen mit statistischen Mitteln dennoch, dass sich bereits 76 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner von Manaus mit dem Coronavirus infiziert haben.

Deutlich weniger Infektionen in Sao Paolo

Als Vergleich wählten sie mit Sao Paolo eine andere brasilianische Stadt und errechneten dort eine Infektionsrate von 29 Prozent. Den Unterschied erklärt sich das Team um Ester Sabino mit der besonders jungen Bevölkerung, der beengten Wohnraumsituation und dem öffentlichen Bootsverkehr in Manaus, bei dem das Risiko für Ansteckungen so hoch ist wie auf Kreuzfahrtschiffen. In Brasilien gibt es unter dem Coronavirus-skeptischen Präsident Jair Bolsonaro zudem keine landesweiten Schutzmaßnahmen. Sie unterscheiden sich von Bundesstaat zu Bundesstaat – in Sao Paolo etwa sind sie deutlich strenger als in Manaus.

Die Sterblichkeitsrate in beiden Städten war bis Anfang Oktober mit rund 1.200 Menschen pro Million Einwohner dennoch ähnlich hoch (zum Vergleich: in Österreich sind es aktuell – nach den mit Abstand höchsten Todeszahlen im November – 450 pro Million). Dass in Manaus mit viel mehr Infektionen nicht auch viel mehr Menschen starben, erklären sich die Forscherinnen und Forscher ebenfalls in erster Linie mit der sehr jungen Altersstruktur.

Friedhof mit an Covid-19 Verstorbenen
AFP – MICHAEL DANTAS
Friedhof mit an Covid-19 Verstorbenen in Manaus

Die errechnete Gesamtinfektionsrate in der Amazonas-Stadt von 76 Prozent ist niedriger, als bei einer Ausbreitung völlig ohne Schutzmaßnahmen zu erwarten wäre. Laut Berechnungen müssten sich dann über 90 Prozent der Bevölkerung mit dem Coronavirus infizieren. Offenbar haben doch einige wenige Maßnahmen wie Abstandhalten und Maske den Infektionswert gesenkt, vermuten die Forscher.

Die 76 Prozent liegen jedenfalls deutlich über der Schwelle, ab der sich eigentlich eine Herdenimmunität einstellen sollte. Zu der scheint es aber bisher nicht gekommen zu sein, denn immer noch sterben Menschen in Manaus an Covid-19. Die Zahlen sind seit Sommer allerdings deutlich gesunken, und eine zweite Welle ist nicht in Sicht.

Keine Argumente für Herdenimmunität

Argumente für eine Strategie der Herdenimmunität liefert die Studie nicht. Denn es sind überdurchschnittlich viele Menschen gestorben, und die Frage, ob sich überhaupt eine Herdenimmunität gebildet hat, ist unbeantwortet. Für Länder wie Österreich ist Herdenimmunität aus mehreren Gründen kein gangbarer Weg. „Einer derartigen Strategie steht im Weg, dass das unser Gesundheitssystem nicht durchhalten würde. Es sind jetzt schon die Intensivkapazitäten überlastet. Wenn wir der Infektion freien Lauf lassen würden, dann würde es wirklich schlimm aussehen“, sagt Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation an der Donau-Universität Krems, gegenüber science.ORF.at.

„Die Altersstruktur der Bevölkerung in Brasilien ist sicher sehr anders als bei uns und die Dokumentation der COVID-Mortalität wird sicher auch anders sein. Die Infection Fatality Rate ist wahrscheinlich eher unterschätzt, und kann man mit westlichen Ländern wahrscheinlich nicht vergleichen“, so Gartlehner. Außerdem sei das Sample nicht repräsentativ, da Blutspender eher jünger und gesünder sind als jene, die nicht spenden. „Aber grundsätzlich ist das eine sehr interessante Studie, ich denke nur, dass die Ergebnisse auf unsere mitteleuropäischen Verhältnisse nur schwer übertragbar sind.“