VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter und Vizepräsidentin Verena Madner
APA/GEORG HOCHMUTH
APA/GEORG HOCHMUTH
VfGH-Urteil

Kein Freibrief für Sterbehilfe

Tötung auf Verlangen bleibt laut dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) weiterhin strafbar, nicht aber die Beihilfe zum Suizid. Das Gericht hat damit keinen Freibrief für Sterbehilfe ausgestellt, aber das Selbstbestimmungsrecht gestärkt, wie der Bioethiker Ulrich Körtner in einem Gastbeitrag kommentiert.

Das wichtigste vorweg: Die Tötung auf Verlangen bleibt auch künftig in Österreich strafbar. Die Forderung der Antragsteller, § 77 StGB als verfassungswidrig aufzuheben, ist vom Verfassungsgerichtshof zurückgewiesen worden. Das ist eine gute Nachricht.

Das Verbot der Tötung auf Verlangen ist eine „lex specialis“ zu § 75 StGB, also eine Näherbestimmung zur generellen Strafbarkeit der vorsätzlichen Tötung (Mord). Würde § 77 StGB zu Fall gebracht, wäre die Tötung eines Sterbewilligen auf sein Verlangen hin noch immer als Mord oder Totschlag zu ahnden.

Porträtfoto Ulrich Körtner
Hans Hochstöger

Über den Autor

Ulrich Körtner ist Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien.

Auch nach dem Erkenntnis des VfGH werden in Österreich also keine Verhältnisse wie in den Beneluxstaaten Einzug halten, wo inzwischen sogar nicht nur die Euthanasie bei andauernden Depressionen straffrei ist, sondern auch Fälle von nicht freiwilliger Euthanasie bei Demenzkranken bekannt sind, und selbst in dem Fall, dass der Sterbewillige nicht schwer erkrankt ist, sondern des Lebens überdrüssig geworden ist, die Tötung auf Verlangen diskutiert wird. Die Legalisierung der Tötung auf Verlangen hat die Tendenz, immer neue Rechtfertigungsgründe zu definieren und auf diese Weise den Lebensschutz auszuhöhlen. Nicht derjenige, der die Euthanasie für sich verlangt, sondern derjenige, welche sie ablehnt, droht unter Rechtfertigungsdruck zu geraten.

Selbstbestimmungsrecht gestärkt

Gleichwohl hat der VfGH das Selbstbestimmungsrecht gestärkt. Das Recht auf freie Selbstbestimmung schließt das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben ein. Das umfasst, wie das Gericht urteilt, allerdings nicht nur die Freiheit zur Selbsttötung, sondern auch das Recht, die Hilfe eines dazu bereiten Dritten bei der Selbsttötung in Anspruch zu nehmen.

Das Recht auf Leben bedeutet keine Pflicht zum Leben, wie schon das Instrument der Patientenverfügung zeigt, mit der ein Patient lebenserhaltende Maßnahmen ablehnen kann. Das Selbstbestimmungsrecht ist im Zweifelsfall also höher als der Lebensschutz zu achten, sofern sichergestellt ist, dass es sich um eine von äußerem Druck freie und wohlüberlegte Entscheidung handelt. Dennoch gilt das Selbstbestimmungsrecht nicht uneingeschränkt. Am Verbot der Tötung auf Verlangen findet es seine Grenze. Dass diese bestehen bleibt, ist eine gute Nachricht. Ebenso ist es eine gute Nachricht, dass die Verleitung zur Selbsttötung weiterhin unter Strafe steht.

Suizidbeihilfe kann Leben verlängern

Dass der VfGH das uneingeschränkte Verbot der Suizidbeihilfe als verfassungswidrig aufgehoben hat, kommt nicht ganz überraschend. Wenn die Selbsttötung und der Versuch derselben keine strafbaren Handlungen sind, kann auch die Mitwirkung daran nicht generell strafbar sein, zumal dann, wenn Patientenverfügungen zum Verzicht auf lebenserhaltende medizinische Behandlung oder zu ihrer Beendigung erlaubt sind. Der VfGH ist damit weiter gegangen als das Mehrheitsvotum der Bioethikkommission im Februar 2015.

In seiner mündlichen Begründung hat das Gericht darauf hingewiesen, dass das Wissen um die Möglichkeit der legalen Suizidbeihilfe im Einzelfall sogar zur Lebensverlängerung führen kann, weil es Sterbewillige vor einem vorzeitigen und in seiner Ausführung vielleicht besonders drastischen Suizid abhält, bei dem vielleicht auch noch Dritte traumatisiert werden.

Allerdings sieht der VfGH durchaus die Gefahr, dass die Entscheidung zur Selbsttötung durch soziale und ökonomische Umstände beeinflusst sein kann. Das kann die Rücksicht auf Familienangehörige und ihre wirtschaftliche Lage sein oder der Wunsch, anderen nicht länger zur Last zu fallen. Ausdrücklich sieht das Gericht den Gesetzgeber in der Pflicht, Maßnahmen zur Verhinderung von Missbrauch vorzusehen.

Gesetzgeber ist gefordert

Hier tun sich allerdings gravierende Fragen auf. Welchen verfassungsrechtlichen Spielraum hat der Gesetzgeber, solche Maßnahmen zu ergreifen? Wird aus dem Recht auf Suizid und Suizidbeihilfe am Ende ein Anspruchsrecht gegenüber dem Staat, für geeignete Mittel zu sorgen? Und wie kann verhindert werden, dass Ärzte zur Mitwirkung beim Suizid verpflichtet werden? Es sollte sichergestellt werden, dass die Beihilfe zum Suizid auch künftig keine ärztliche Aufgabe ist. Andernfalls droht die Suizidbeihilfe zu einer neuen Routine zu werden, für die dann konsequenterweise Instrumente der Qualitätssicherung eingeführt werden.

Außerdem wird es um die Aktivitäten von Sterbehilfevereinen gehen, wie sie bereits in der Schweiz oder inzwischen auch in Deutschland bestehen. Der Versuch, die Tätigkeit solcher Vereine als „gewerbsmäßige“ Suizidbeihilfe unter Strafe zu stellen, ist in Deutschland gescheitert. Im Februar 2020 wurde das eigens dafür geschaffene Gesetz vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt.

Ausbau der Palliativmedizin

Die rechtliche und ethische Diskussion ist mit dem heutigen Urteil also nicht beendet, ganz im Gegenteil. Es wird auch darüber zu diskutieren sein, welche flankierenden Maßnahmen zum Schutz besonders vulnerabler Menschen vor familiärem und gesellschaftlichem Druck auch jenseits gesetzlicher Bestimmungen zu ergreifen und auszubauen sind.

In diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt auf den weiteren Ausbau der Palliativmedizin und -pflege zu dringen. Auch der VfGH hat betont, dass der Zugang zu Palliativversorgung für alle gewährleistet werden muss. Die Diskussion über menschenwürdiges Sterben und eine Kultur der Solidarität mit den Sterbenden, ihren Angehörigen und denen, die sie medizinisch und pflegerisch versorgen, darf nicht im Tunnelblick auf das Thema Suizidbeihilfe verengt werden. Wäre das die Folge des heutigen Urteils, es wäre für die Sterbekultur und Humanität in unserem Land fatal.