Das Coronavirus mit einem Erbgutfaden (RNA) in seinem Inneren
vchalup – stock.adobe.com
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SARS-CoV-2

Studie: Virusteile im menschlichen Erbgut

Das Coronavirus kann möglicherweise Teile seiner RNA in das Erbgut menschlicher Zellen einschleusen. Darauf weist eine noch unbestätigte Studie hin, die nun in der Fachgemeinde eine heftige Debatte ausgelöst hat.

Seit dem Sommer kursieren Berichte von Patienten, die Wochen oder Monate nach einer Genesung erneut positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Kann man sich in seltenen Fällen ein zweites Mal mit dem Erreger infizieren? Davon gingen Wissenschaftler bis vor Kurzem aus, doch Forscher und Forscherinnen um Rudolf Jaenisch vom Whitehead Institute for Biomedical Research in Cambridge, Massachusetts, schlagen nun eine alternative Erklärung vor.

Sie fanden Hinweise, dass Virus-RNA in DNA umgeschrieben und so ins menschliche Erbgut gelangen könnte. Diese im Genom von Körperzellen ruhenden Virussequenzen sollen Jaenisch zufolge für die erneut positiven PCR-Tests verantwortlich sein.

Ähnlich wie bei HIV

Der deutsch-US-amerikanische Molekularbiologe stellte kürzlich in einer noch nicht begutachteten Studie folgende Indizien vor: In RNA-Sequenzdaten von Covid-19-Patienten finden sich chimäre Moleküle, die einerseits menschlichen Ursprungs sind, andererseits Anteile aufweisen, die vom Coronavirus stammen. Jaenisch zieht daraus den Schluss, dass hier ein Mechanismus am Werk war, den man bereits von Retroviren kennt.

Das HI-Virus beispielsweise schreibt seine RNA-Gene mit Hilfe des Enzyms reverse Transkriptase in DNA um und delegiert auf diese Weise die eigene Vermehrung an infizierte Wirtszellen. Die Integration der RNA ins Erbgut der Zellen könnte laut Jaenisch auch beim Coronavirus hin und wieder passieren. Mit einem wichtigen Unterschied: Es handelt sich dabei bloß um Erbgutschnipsel, infektiöse Viren entstehen dabei nicht.

Uralte Anpassung?

Dass es sich so verhalten könnte, zeigen etwa Laborversuche mit infizierten menschlichen Zellen, in denen bestimmte Sequenzen – die LINE-1-Elemente – überaktiviert wurden. Bei LINEs handelt es sich um Reste uralter Retrovirus-Infektionen, die insgesamt bis zu 20 Prozent des menschlichen Erbguts ausmachen. Ebendort befindet sich auch die Bauanleitung für das Enzym reverse Transkriptase. Unter geeigneten Laborbedingungen lässt sich die Verschmelzung von Erbgutfäden aus dem Virus und dem Zellkern laut Studie tatsächlich erzeugen, ob das im menschlichen Körper auch so ist, bliebe noch nachzuweisen.

Möglicherweise, so vermuten die Forscher um Jaenisch, hat das auch alles einen Sinn: Es könnte sich nämlich um eine Anpassung an Infektionen handeln, die das menschliche Immunsystem mit Viruspartikeln beliefert und ihm die Möglichkeit gibt, den Erreger effektiver zu bekämpfen. Das ist die positive Lesart. Möglich wäre allerdings auch, dass diese Partikel bei manchen Patienten den ohnehin schon gefährlichen Zytokinsturm – eine Überreaktion des Immunsystems – noch weiter verstärken.

Zustimmung und harte Kritk

Die auf dem Preprintserver bioRxiv veröffentlichte Studie sorgte in der Fachgemeinde für teils heftige Reaktionen. Der Molekularbiologe Markus Walter wirft Jaenisch und seinem Team in einem Twitter-Post vor, einen entscheidenden Punkt übersehen zu haben.

Die chimären RNA-Moleküle könnten nämlich auch bei der ganz normalen Vermehrung des Coronavirus durch Fusion mit menschlicher mRNA entstanden sein. Ohne den Umweg über die DNA im Zellkern – womit die daraus abgeleiteten Hypothesen obsolet wären. David Baltimore vom California Institute of Technology bezeichnet die Studie gegenüber dem Fachblatt „Science“ hingegen als „überraschend“ und „beeindruckend“, der Virologe John Coffin von der Tufts University hält die Ergebnisse wiederum für „glaubhaft“, zweifelt allerdings an ihrer biologischen Relevanz.

Die Impfstofffrage

Sollten sich Jaenischs Hypothesen bewahrheiten, wäre damit auch die Frage aufgeworfen, was das für die gerade angelaufenen Coronavirus-Impfungen mit viraler RNA bedeutet. Könnte entgegen bisherigen Annahmen ein Teil davon in den Zellkern gelangen? Völlig auszuschließen ist das nach heutigem Stand des Wissens nicht. Grund zur Sorge aber auch nicht: Denn die Impfstoffe beinhalten bloß ausgewählte RNA-Stücke, die das Immunsystem für die Konfrontation mit dem Erreger vorbereiten. Ein infektiöses Virus kann daraus nicht entstehen. Und der von Jaenisch vorgeschlagene Mechanismus würde daran nichts ändern.