Porträt von Hegel
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Philosophie

Trost und Rat durch Hegels „Logik“

2020 ist auch das Jahr von Georg Wilhelm Friedrich Hegel gewesen, der deutsche Philosoph wurde vor 250 Jahren geboren. Dass eines seiner schwierigsten Werke, die „Wissenschaft der Logik“, gerade in der Pandemiezeit Halt geben und sogar Trost spenden kann, meint der deutsche Kulturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe – er las Hegel in einer Art Meditationsübung.

Ein halbes Jahr lang hatte er sich selbst jeden Tag eine Stunde „Logik“-Lektüre verordnet. Bei Sätzen wie:

  • „Der Begriff ist das An- und Für-Sich-Sein, insofern es Gesetzt-Sein ist, oder die absolute Substanz, insofern sie die Notwendigkeit unterschiedener Substanzen als Identität offenbart, so muss diese Identität das, was sie ist, selbstsetzen“

war das kein Zeitvertreib, sondern harte Denkarbeit. Patrick Eiden-Offe vom Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) in Berlin empfiehlt sie dennoch oder gerade deshalb. Aus seinen täglichen Hegelstunden hat er ein Buch destilliert (siehe Kasten), das man als Einführung in die „Logik“ lesen kann, aber auch als Anstoß, ihr selbst einmal zu begegnen, vielleicht ja auch meditativ.

science.ORF.at: Hr. Eiden-Offe, man kann heute (konnte vor Corona) Tiefseetauchen ohne Sauerstoff oder aus der Stratosphäre springen – Hegels wirklich komplizierte „Logik“ als eine Art Meditationspraxis zu lesen, erscheint da noch viel eskapistischer. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen und was war Ihr Antrieb?

Cover des Buchs Hegels „Logik“ lesen
Verlag Matthes & Seitz

Buch

Patrick Eiden-Offe: Hegels „Logik“ lesen. Ein Selbstversuch, Verlag Matthes & Seitz Berlin 2020 (Leseprobe)

Links

Patrick Eiden-Offe: Mit den von Ihnen genannten Aktivitäten hat meine Lese- und Meditationsübung mit Hegels „Logik“ vielleicht mehr zu tun, als man erst einmal denkt. Es ging mir darum, eine extreme Erfahrung zu machen, auch eine extreme Selbsterfahrung, bei der es aber nicht darum geht, endlich bei sich selbst anzukommen – oder wie es sonst in solchen Zusammenhängen wohl heißt -, sondern umgekehrt: Es ging darum, von der Fixierung auf das eigene Ich und Selbst wegzukommen. Oder, in der Sprache der Extremsportler*innen: die eigenen Grenzen, die Grenzen des eigenen Ich zu überschreiten. Es ging darum, eine ganz persönliche Erfahrung mit einem in der Tat sehr unpersönlichen Buch zu machen.

In der „Wissenschaft der Logik“ geht es nicht, wie noch in der „Phänomenologie des Geistes“ (Hegels erstem großes philosophischem Buch, das fünf Jahre vor der „Logik“ erschienen ist) um die Abenteuer und die Entwicklung der modernen Seele, es geht nicht – wie bei Kant – um eine Selbstreflexion unseres Erkenntnis- und Begehrungsvermögens, es geht noch viel weniger, wie später bei Kierkegaard, Nietzsche oder Heidegger, um Analysen unseres Daseins in der modernen Welt. Nein, in der Hegelschen „Logik“ geht es um „objektive Denkformen“, es geht darum, ein „System der reinen Vernunft“ aufzustellen, es geht, wie Hegel selbst vielleicht ein wenig ironisch schreibt, um eine Darstellung der Gedanken Gottes vor der Schöpfung.

Noch verwegener als Hegels „Logik“ lesen scheint mir Hegels „Logik“ geschrieben zu haben, also Hegel selbst: Ist der Anspruch, die Gedanken Gottes vor der Schöpfung zu skizzieren, wirklich ironisch gemeint oder nicht schon im Ansatz größenwahnsinnig?

Eiden-Offe: Klar ist das größenwahnsinnig. Das ist ja sozusagen die definitive Hybris: sich als sterblicher, fehlbarer Mensch in den Kopf des Allmächtigen hineinzuversetzen. Damit ist es dann aber vielleicht eben auch ironisch: Denn es wird damit ja auch gesagt, dass selbst Gott in seinem Denken von Gesetzen und Regeln abhängig ist, die er genauso wenig ändern kann wie wir. Das ist die vielleicht tiefste Ironie bei Hegel: dass die Hybris und der Größenwahn mit einer großen Demut einhergehen. Der Mensch ist bei Hegel abhängig von einem Anderen, das unserer Verfügungsgewalt immer schon entzogen ist. Dieses Andere ist aber kein jenseitiger Gott, sondern es sind die immanenten Formen unseres Denkens selbst, die für alle und immer gelten und die wir uns zwar durchsichtig machen, die wir aber nicht ändern können: Die Denkformen sind deshalb „objektiv“. Im Denken – also dann, wenn wir als vernunftbegabte Wesen am meisten bei uns selbst zu sein meinen – machen wir die Erfahrung eines Anderen, dem wir ausgeliefert sind. Demnach denken wir nicht, wir werden gedacht, und wir können diesem „objektiven Denken“ allenfalls nach- und hinterherdenken.

Die Demut des Hegelschen Denkens drückt sich auch darin aus, dass er immer wieder über die „Idealisten“ schimpft – damit meint er Kant und vor allem Fichte, die immer vom Subjekt ausgehen und alles aufs Subjekt zurückführen. Das sieht erst einmal bescheiden aus, sagt Hegel, ist aber letztlich nur Ausdruck einer gigantischen Selbst-Überschätzung des modernen Subjekts. Für Hegel gibt es hingegen einen Vorrang des Objekts, das wir zwar erforschen und erfassen können, dem wir uns darum aber auch erst einmal ernsthaft zuwenden müssen – in der Philosophie, in den Wissenschaften, vielleicht auch in der Kunst. – Das ist aufregend, weil ein solches Denken, das von unserem Ich erst einmal absieht, uns heute sehr fremd ist, und, ja, es fühlt sich „gefährlich“ an, sich einem solchen Denken auszusetzen, oder, wie es bei Hegel im Jargon von Selbsterfahrungsgruppen immer heißt: sich darauf „einzulassen“.

Hegel
ORF/Lukas Wieselberg – Maya McKechneay

Bei Selbsterfahrungsgruppen geht es ja immer darum, dass ein Einzelner nachher mehr Bescheid weiß – über sich, sein Verhalten, die Gruppe. Was wissen Sie nach ihrer täglichen Hegel-„Logik“-Stunde mehr über sich? Und was weiß „das Denken“ nachher mehr, was Hegel vermutlich mehr interessiert hätte?

Eiden-Offe: Ich habe gelernt, „mich einzulassen“: mich auf eine Denkbewegung einzulassen, die vom Selbstverständlichen ausgeht und – streng logisch und Schritt für Schritt nachvollziehbar – tief in die Irrnis führt, um nachher umso klarer darstellen zu können, dass das vorgeblich Selbstverständliche eben nur vorgeblich verstanden ist. Wenn wir festhalten wollen, was es heißt, etwas zu denken oder noch verwegener: etwas zu wissen, dann werden wir erst einmal alles in Frage stellen müssen, was wir zu wissen meinen. Hegel nennt das irgendwo einen „sich vollbringenden Skeptizismus“, aber dieser ist so vollbracht, dass er auch einfache Lösungen à la „ich weiß, dass ich nichts weiß“ oder „nichts ist so, wie es scheint“ nicht akzeptieren kann.

Die „Logik“ schafft keine gesicherte Grundlage für unser Wissen, sondern führt – ganz im Gegenteil – streng und unnachgiebig vor, dass es eine unumstößliche und fraglose Grundlage des Wissens nicht geben kann. Das ist aber gerade keine Lizenz dafür, einfach zu sagen, dass es überhaupt kein Wissen gibt. Hegel hat ja, nach der „Logik“, ein grandioses System des Wissens und der Wissenschaften aufgestellt. Die Grundlage des Wissens ist, paradox, seine Fähigkeit, sich permanent und rückhaltlos selbst in Frage zu stellen, wobei man diese Fähigkeit gewissermaßen trainieren kann und muss. Dass die Grundlage des Wissens im Ab-grund liegt, ist einer der Hegelschen Kalauer, die mich in der „Logik“ sehr überrascht haben, weil ich dergleichen Sprachwitz dort nicht vermutet hätte.

Gerade im Pandemiejahr 2020 zeigt sich, wie ab-gründig unser Wissen ist. Manche Coronaleugner scheinen hinter die einfachsten Errungenschaften der Aufklärung zurückfallen zu wollen oder betreiben ein postmodern anmutendes Gedankenpatchwork, wo das eine so richtig ist wie das andere. Kann Hegel helfen, wieder Ordnung in dieses „anything goes“ zu bringen?

Eiden-Offe: Dass die Einsicht in den Abgrund jedes Wissens, die uns Hegels „Logik“ gewährt, auch und gerade im Hinblick auf die Wissenschaften eine gewisse Sprengkraft besitzt, ist mir tatsächlich erst im Laufe dieses Jahres klargeworden, in der erzwungenen Konfrontation mit Coronaleugnern und Wissenschaftsskeptiker*innen, die manchmal mit Aluhüten herumlaufen, manchmal aber auch nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Leute tatsächlich ein postmodernes „anything goes“ vertreten. Ich habe den Eindruck, dass die meisten ganz genau wissen, was richtig ist, und was falsch – und dass die das so genau wissen und überhaupt nicht bereit sind, auch nur die kleinste Kontingenz zu akzeptieren, macht sie ja erst zum Problem. Ich fürchte, wir müssen anerkennen, dass die Wissenschaftsskeptiker*innen und Verschwörungstheoretiker*innen nicht einfach das Gegenteil der modernen Wissenschaft darstellen, sondern gewissermaßen eher deren groteske Karikatur. Das hat ja schon Freud festgehalten: Wissen und Wahn, die sind sich ähnlicher, als uns – zumal uns Wissenschaftler*innen – lieb sein kann.

Porträt von Hegel
ÖNB

Das kann man bei manchen Corona-Leugnern wirklich gut beobachten: Sie reklamieren fundamentale Bestandteile der Aufklärung wie Zweifel und Kritik für sich und zimmern aus ihren höchst subjektiven Beobachtungen ein (Wahn)Wissen. Kann Hegels „Logik“ dem etwas entgegensetzen?

Eiden-Offe: Hegel zeigt in seiner „Wissenschaft der Logik“, dass es eine unhinterfragbare Grundlage alles Wissens – zumal im doppelten und dreifachen Singular: die eine Grundlage des Wissens oder der Wissenschaft – nicht geben kann. Die „Logik“ zeigt, dass wir beim Denken immer irgendwelche Voraussetzungen machen müssen, die wir dann, wenn wir uns redlich Rechenschaft über die Grundlage unseres Wissens ablegen wollen, erst einmal einholen und durch neue Setzungen und Voraussetzungen ersetzen müssen. Wenn wir mit Hegel anerkennen, dass es keinen allerersten Anfang in der Wissenschaft gibt – deshalb macht Hegel sich wahnsinnig lange und umständlich Gedanken darum, dass und wie wir diesen Anfang machen müssen -, dann müssen wir auch einsehen, dass es kein endgültig zu erreichendes Ziel gibt.

Klar, die Corona-Leugner fallen hinter die Aufklärung zurück: Da gibt es nichts zu deuteln, und man muss auch aufpassen, dass man diese Leute in der Auseinandersetzung nicht schlauer redet, als sie sind. Aber die Aufklärung ist ja auch nicht das letzte Wort der Geschichte, und immerhin berufen sich ja nicht wenige der Corona-Leugner und -relativierer ebenfalls auf die Aufklärung. Irgendwann im 20. Jahrhundert wurde ja mal festgestellt, dass der Aufklärung ihre eigene Dialektik innewohnt und dass die vielleicht sogar für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts mitverantwortlich ist. Wir sollten also nicht vergessen, dass schon Hegel nicht einfach bei der Aufklärung stehen geblieben ist. Er hat gesehen, dass der aufklärerische Wissenschaftsoptimismus zu einfach ist: Es gibt nicht dort die eine Wirklichkeit und hier das eine wissenschaftliche Bewusstsein, sondern beides steht immer schon in Auseinandersetzung miteinander – das Wissen bildet Wirklichkeiten aus, so wie die Wirklichkeiten das Wissen prägen -, und vor allem stehen verschiedene Wissenschaften (im Plural) und verschiedene Wissenschaftskonzeptionen miteinander im Streit. Dies anzuerkennen, bedeutet gerade keinen Relativismus. Die Wissenschaftsskeptiker*innen und Verschwörungstheoretiker*innen können alles in Frage stellen, nur ihre eigenen Überzeugungen nicht. Da ist man als Leser der Hegelschen „Logik“ klarerweise schon weiter.

Hegel Porträt
Public Domain

Ihr Buch endet überraschenderweise mit dem Hinweis, dass diese „Logik“ heute sogar so etwas wie Trost spenden kann. Überraschend deshalb, weil Hegel in den „Gedanken Gottes vor der Schöpfung“ Trost eher nicht entdeckt hat. Sie sehen das – vielleicht gegen dessen Absicht – anders: Wo haben Sie das Tröstliche in Hegel entdeckt – vielleicht und gerade in Pandemie-Zeiten?

Eiden-Offe: Zunächst einmal war ich sehr froh, als mir das Wort „Trost“ einfiel, um das Gefühl zu beschreiben, das mich beim Lesen der „Logik“ beschlichen hat. Trost ist ja ein seltsames Gefühl, er hat auch keinen besonders guten Ruf. Trost klingt sehr schnell nach Vertröstung oder nach „schwachem Trost“, den man als starkes, abgebrühtes Subjekt nicht zu brauchen hat. Deshalb mag Hegel den Trost auch nicht. Das Gefühl des Trosts resultiert für mich aber aus dem Herz der Hegelschen Philosophie selbst. Zum einen gibt sie einem die paradoxe Sicherheit, dass auch all das, was fest und sicher zu sein beansprucht, untergehen wird: Es gibt kein überzeugenderes Mittel gegen alle beanspruchten Alternativlosigkeiten als Hegels durch und durch negative Dialektik. Deshalb haben die Leute in den letzten 200 Jahren auch immer dann Hegel gelesen, wenn ihnen ihre eigene historische Situation vollkommen verfahren und aussichtslos erschienen ist.

Und dann aber spendet Hegels Philosophie auch noch einen anderen Trost, der dem ersten genau entgegengesetzt zu sein scheint: Denn dass immer alles anders wird, heißt nicht, dass deshalb alles vollkommen beliebig und regellos geschieht. Mit der „Logik“ kann ich nachvollziehen, dass das Leben, das ich geführt habe, mir nicht einfach so widerfahren ist, sondern dass in allem – selbst den zufälligsten Geschehnissen – wenigstens ein Quentchen meines eigenen Tuns steckt: Aus willkürlichen Ereignissen und Fakten wird erst dann „mein Leben“, wenn ich mich aktiv dazu verhalte (oder besser: mich darauf einlasse). Hegel nutzt für diesen Sachverhalt verfängliche Begriffe, die tatsächlich nach Vertröstung und Beschönigung klingen: In der „Phänomenologie“ heißt die rückblickende Anerkennung des Geschehenen, die neues Handeln ermöglicht, „Verzeihung“ – der Geist heilt hier alle Wunden. In Hegels politischer Philosophie heißt derselbe Sachverhalt, fast noch verfänglicher, „Rechtfertigung“. Der Trost der „Logik“ war für mich erst einmal ein persönlicher, ein ganz individueller, der auch „Verzeihung“ und „Rechtfertigung“ umfasst, der sich aber trotzdem abstrakter, „reiner“ anfühlte. Abstrakter Trost oder Trost durch Abstraktion: auch solche komplizierten Gefühlslagen können wir mit Hegel erfahren und auf den Begriff bringen, oder besser: nur mit Hegel.