Alltag während der Pandemie: Menschen mit Nasen-Mund-Schutz in der U-Bahn
INA FASSBENDER/AFP
INA FASSBENDER/AFP

Wie gefährlich sind die neuen Virusvarianten?

Nach Großbritannien wurde auch in Südafrika eine mutierte Variante des Coronavirus entdeckt: Beide sind offenbar ansteckender, Hinweise auf schwerere Krankheitsverläufe oder Probleme bei Impfungen gibt es bisher nicht. Ein Überblick.

Der Name spricht für sich: Die erstmals im September in der Grafschaft Kent nachgewiesene Virusmutation hieß ursprünglich „Variant of Concern-202012/01“, mittlerweile hat sich die Bezeichnung „B.1.1.7“ eingebürgert. Sorge löst vor allem die rasante Verbreitung des Erregers aus, ähnliches gilt auch für die im Oktober in Südafrika nachgewiesene Variante „501.V2“ – letztere dürfte allerdings unabhängig vom „britischen“ Virus entstanden sein.

Was die neuartigen Mutationen bewirken und was das für den weiteren Verlauf der Pandemie bedeuten könnte, wurde jüngst in einigen Studien untersucht. Erschienen sind diese großteils auf den Preprintservern „medRxiv“ und „bioRxiv“, es handelt sich also um vorläufige Forschungsergebnisse, die noch nicht von unabhängigen Fachleuten geprüft wurden.

Noch infektiöser

Dass die neuen, mittlerweile auch in Österreich nachgewiesenen Varianten ansteckender sind als die bisher zirkulierenden Coronaviren, ist schon länger bekannt. Mittlerweile lässt sich dieser Befund in konkrete Zahlen fassen. Forscher um Nicholas Davies von der London School of Hygiene and Tropical Medicine kommen aktuell zu dem Schluss, dass B.1.1.7 etwa um die Hälfte (56 Prozent) übertragbarer ist. Ähnlich eine Abschätzung von einem Team um Neil Ferguson vom Imperial College London, wonach die Reproduktionsfähigkeit des Erregers um 50 bis 75 erhöht ist.

Das führt zu einer stärkeren Vermehrung, beziehungsweise umgekehrt formuliert: „Es wird nun deutlich schwieriger, das Virus an der Ausbreitung zu hindern“, sagte Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation gegenüber dem Fachblatt „Science“.

Pressekonferenz: „Ausbreitung von Virus-Varianten“

Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne), Franz Allerberger (AGES) und Genetiker Andreas Bergthaler informieren über die in Österreich nachgewiesenen Virus-Varianten aus Großbritannien und Südafrika.

Gesundheitsminister Rudolf Anschober lud heute zu einer Presekonferenz, um über die aktuelle Lage im Lande zu informieren, Andreas Bergthaler vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CEMM) in Wien resümierte ebenda: „Kein Grund zur Panik. Aber die Situation zeigt: Das Virus ist dynamisch.“

Krankheitsverlauf kaum verändert

Die gute Nachricht: Hinweise auf schwerere Krankheitsverläufe gibt es bei den neuen Varianten bisher nicht. Eine stärkere Verbreitung bedeutet allerdings, dass in Summe mehr Erkrankungen auftreten können – und damit auch mehr schwere Verläufe. In England ist das aktuell zu beobachten: Saffran Corderey, stellvertretender Geschäftsführer des National Health Service, berichtet von einem Anstieg der Zahl der Covid-19-Patienten um 27 Prozent innerhalb von sieben Tagen. Die Zahl der Intensivpatienten habe sich um 35 Prozent erhöht.

Adam Kucharski von der London School of Hygiene and Tropical Medicine hat das anhand eines konkreten Zahlenbeispiels durchrechnet: Ein Virus mit einer um 50 Prozent erhöhten Übertragbarkeit (wie das bei B.1.1.7 der Fall ist) kann zu deutlich mehr Todesfällen führen als eine Variante, die eine unveränderte Ansteckungsrate aufweist, aber um 50 Prozent „tödlicher“ ist.

Mutierte Adockstelle, Impfungen wirken

Das Coronavirus SARS-CoV-2 dockt mit Hilfe des sogenannten Spike-Proteins an die Zellen im menschlichen Körper an. In diesem Bereich des Genoms kam es offenbar sowohl bei B.1.1.7 als auch bei 501.V2 zu einer genetischen Veränderung: Diese Mutation erhöht die Bindung an die Zellen, das Andockmanöver fällt den neuen Virusvarianten also leichter, wie nun eine brasilianische Studie nachweist. Britische Forscher haben in entsprechenden Proben auch eine erhöhte Viruslast festgestellt – was ebenfalls für eine erhöhte Infektiosität spricht.

Der Impfstoff von Biontech/Pfizer dürfte auch gegen die zwei neuen Varianten des Coronavirus Schutz bieten, wie aus einer gestern veröffentlichten Studie hervorgeht. Demnach erreicht der Impfstoff wie schon bei den bisher bekannten Formen von SARS-CoV-2 eine Wirksamkeit von 95 Prozent. Untersucht wurden die Antikörper im Blut von 20 geimpften Probanden, um das Ergebnis statistisch abzusichern, sind wohl weitere Untersuchungen mit mehr Testpersonen nötig. Sollte es dennoch zu Problemen mit der Impfung kommen, ließen sich diese freilich relativ schnell beheben: Speziell RNA-Impfstoffe sind flexibel und könnten auch an neue Mutationen im Viruserbgut angepasst werden.

Schwächere Immunreaktion?

Laut Laboruntersuchungen gibt es überdies Hinweise auf eine abgeschwächte Immunreaktion gegen die neuen Varianten: Die Antikörper von bereits Genesenen könnten wegen einer „Escape-Mutation“ nicht mehr so gut wie vorher auf das Virus passen. Und das, so die Sorge, könnte wiederum Neuinfektionen wahrscheinlicher machen. Für die Infektiologin Isabella Eckerle von der Uni Genf ist das allerdings ein nachgeordnetes Problem. „Escape-Mutationen würden dann eine größere Rolle spielen, wenn wir bereits nahe der Herdenimmunität wären. Das sind wir aber nicht.“

Eine überraschendes Nebenergebnis liefert die oben erwähnte Untersuchung von Ferguson und Mitarbeitern: Laut ihren Analysen kommt es bei PCR-Nachweisen von B.1.1.7. häufiger zu diagnostischen Fehlern, die Tests können die genetische Struktur im Bereich des Stachel-Proteins offenbar nicht so gut erkennen. Das ist einerseits kein Drama, weil dieses Ergebnis nur für einen spezifischen PCR-Test gilt und eine Reihe anderer Genbereiche als Ziel zur Verfügung stehen, die nach wie vor erkannt werden. Andererseits könnte dieser Befund Anlass dafür sein, sich Gedanken zu machen, wie man die Protokolle abändern müsste, um solche Fehler in Zukunft zu vermeiden.

Praxis: Konsequent bleiben

Im Grunde wiederholt sich nun die Situation, wie wir sie schon im Frühjahr letzten Jahres hatten: Die Politik muss Entscheidungen auf Basis noch unzureichender Daten treffen, am ehesten abgesichert sind die Erkenntnisse über die schnellere Verbreitung der neuen Virusvarianten, alle restlichen Fragen werden frühestens in ein paar Wochen seriös zu beantworten sein. Was bedeutet das für den Alltag der Menschen – ändert sich etwas? Laut Andreas Bergthaler nicht viel. „Wir brauchen keine neuen Maßnahmen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen, wir müssen sie nur einhalten.“

Die größte Herausforderung, so Bergthaler, werde vor allem darin liegen, die Bevölkerung motiviert zu halten. „Den Leuten hängt das Thema schon zum Hals heraus“, eine gewisse Ermüdung beobachte er auch an sich selbst. Dennoch: „Wir sollten das als Weckruf sehen, das sind sicher nicht die letzten Virusvarianten, die wir sehen werden.“ Ähnlich sieht das Isabella Eckerle. „Wir müssen in den in den nächsten Monaten konsequent bleiben. Das tut weh, aber mit den Impfungen haben wir eine Perspektive.“