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LIONEL BONAVENTURE/AFP
LIONEL BONAVENTURE/AFP
Wissen

20 Jahre Wikipedia: „Hello World“

Am 15. Jänner 2001 ging die Internetenzyklopädie erstmals online. Aus dem zunächst utopischen Projekt wurde im Lauf der Jahre ein Zufluchtsort der Vernunft und Ruhe – manche sagen gar: ein Weltwunder.

Eine nette Idee, aber zu verrückt, um jemals zu funktionieren. Das dachten 2001 wohl viele über das waghalsige Vorhaben des Philosophen Larry Sanger und des Unternehmers Jimmy Wales. Die beiden planten nicht weniger als eine Onlineenzyklopädie, an der jeder mitschreiben kann. Und sie sollte es qualitativ mit dem Lexikongoldstandard der Branche aufnehmen können: der altehrwürdigen „Encyclopedia Britannica“.

Erster Eintrag: unbekannt

Darin steckt viel von den Utopien des frühen Internets: Wissen für alle, hierarchiefrei. 2001 ging Wikipedia an den Start, drei Jahre nach einer Suchmaschine mit dem eigenartigen Namen Google und drei Jahre vor einem Onlinejahrbuch, das Facebook hieß.

Am 15. Jänner tippte Wales „hello world“ auf Wikipedia.com, nachdem er die Website kurz vorher registriert hatte. „Über die allerersten Artikel wissen wir sehr wenig, weil die alle verloren gegangen sind. Das lief damals auf einem alten Rechner von Jimmy (Wales) und da hat sich wohl die Festplatte verabschiedet. Den absolut ersten Eintrag kennen wir also nicht“, sagt Pavel Richter.

Er brachte rechtzeitig zum 20. Geburtstag ein Buch über Wikipedia heraus: „Die Wikipedia Story: Biografie eines Weltwunders“. Seit fast 20 Jahren ist er Wikipedianer und war mehrere Jahre Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland, dem deutschen Förderverein von Wikipedia.

Leuchtturm der Menschheitsgeschichte

Was viele nicht für möglich hielten, wurde schließlich Realität. Heute kann man Wikipedia wohl als bisher größte Kollaboration in der Menschheitsgeschichte bezeichnen. Wikipedia gehört zu den populärsten Websites und ist eine riesige Wissensschatzkiste. Doch Wikipedia hat auch Problemzonen. Es menschelt auch bei Wikipedia – oder man sollte besser sagen, es „männelt“.

Wikipedia hat seit Anbeginn ein Männerproblem. Auf neun Autoren kommt gerade mal eine Frau. Und diese Autoren sind meist akademisch gebildet und älter als 40. Will die Wikipedia ihre zugegeben ambitionierte Mission erfüllen und das gesamte Weltwissen bieten, tut sie sich mit so einer Truppe zugegebenermaßen schwer.

Schwund von Autorinnen und Autoren

Die Wikimedia-Stiftung hat seit zehn Jahren viel unternommen, um mehr Frauen als Autorinnen zu gewinnen. Groß getan hat sich bisher nichts, sagt Leonhard Dobusch, Professor für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Organisation an der Universität Innsbruck. Er forscht seit vielen Jahren zu Wikipedia. „Da merkt man, wie schwierig es ist, wenn alle Inhalte von einer Community an Freiwilligen erstellt werden. In einem Unternehmen kann ich sagen, wir haben zu wenig Frauen, dann stelle ich mehr ein. In Wikipedia bin ich darauf angewiesen, wer mitmachen will und wer dabei bleibt.“

Dass Neulinge und oft auch Erfahrene nicht am Ball bleiben, wird zunehmend zum Problem. Seit Jahren verzeichnet die Wikipedia einen Schwund von Autorinnen und Autoren. Das hat auch mit einem vielfach rauen Diskussionsklima unter Autoren, Sichtern und Administratoren zu tun. Bei einer Umfrage gab nur die Hälfte der Befragten an, dass sie sich am Anfang willkommen fühlten. Dass Inhalte schnell wieder gelöscht werden, weil sie als nicht relevant gelten, ist da ebenso abschreckend wie Konflikte mit Alteingesessenen.

Trotz der Schwierigkeiten: Die Reputation der Wikipedia ist heute so gut wie nie zuvor, das mag auch an den Vergleichsgrößen liegen. Das Netz erscheint uns heute als großer Topf, in dem „Fake News“, Desinformationen und Verschwörungstheorien blubbern. Nicht so auf Wikipedia. Denn ihre Autorinnen und Autoren haben über die Jahre gelernt, dass sie alles, was sie schreiben, genaustens belegen und Quellen prüfen und anführen müssen.

Die Pflicht zum Beleg

Auch wenn erbitterte Auseinandersetzungen um Standpunkte, um das, was valides Wissen ist, an der Tagesordnung stehen, es gibt einen Zwang, sich zu einigen, sagt Leonhard Dobusch. Am Ende kann zu einem Thema nur ein Wikipedia-Artikel existieren.

„Da unterscheidet sie sich grundlegend von den anderen großen Plattformen. Das macht sie viel robuster gegenüber Desinformation und Verschwörungsmythen. Während auf Facebook und YouTube jeder auf seinem und ihrem Kanal sendet, wo es nur darum geht, wer schreit am lautesten, wer hat die meisten Clicks, die meisten Follower, du bekommt am meisten Aufmerksamkeit – das funktioniert in der Wikipedia nicht. Das gibt’s nur diesen einen Artikel zu diesem Thema. Die, die sich dafür interesseiern, müssen sich einigen. Das kann manchmal zu Aussagen führen wie: A sagt das, und B sagt das. Aber wissenschaftlich völlig unbelegte Aussagen werden nicht als gleichwertig präsentiert.“

Wikipedia stellt auch kulturelle Phänomene wie Verschwörungstheorien dar. Aber es gibt zur Behauptung, die Mondlandung habe es nie gegeben, einen ausführlichen eigenen Artikel.

Altbacken – mit Inhalt

Dass Wikipedia anders funktioniert als die meisten andern erfolgreichen Plattformen, auf denen sich Menschen untereinander austauschen, sieht man ihr auch an. Die Wikipedia sieht im Vergleich altbacken aus, über die zwanzig Jahre scheint sich ihr Aussehen kaum verändert zu haben.

Schick und neu sieht heute im Web anders aus: Aufgeräumt und reduziert kommen erfolgreiche Websites daher, damit genug Platz für Werbung ist, und gleichzeitig können wir auf dem Smartphone ins Unendliche scrollen, immer neuer frischen Content wird uns nachgeliefert, damit unsere Augenbälle kleben bleiben. Mit Daumen, Sternchen und Smiley können wir zeigen, was uns gefällt oder eben nicht.

Auf Wikipedia findet sich nichts dergleichen, weil die Onlineenzyklopädie anders als andere erfolgreiche Seiten nicht darauf optimiert ist, uns möglichst lange auf der Seite zu halten, sagt Richter. „Wikipedia sagt: Schön, dass du da bist, ich hoffe, du findest, was du suchst, bleib, wenn du bleiben möchtest, geh, wenn du gehen möchtest."

„Das ist der Grund, warum sich Wikipedia in den vergangenen 20 Jahren so wenig verändert hat. Würde Wikipedia nach den gleichen Maßstäben wie kommerzielle Webseiten optimiert, wäre das fatal.“ An ihrem Äußeren muss Wikipedia nicht arbeiten, dafür an ihrem Innersten, und das ist bekanntlich eine viel größere Aufgabe.