Eine Mutter lernt mit ihren beiden Kindern am Computer
AFP – OLI SCARFF
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Lockdown

Freiraum für Kinder verbessert Familienklima

Das Leben und Arbeiten auf engstem Raum in Zeiten von immer neuen Lockdowns und Ausgangsbeschränkungen kann schnell zur großen Belastung werden. Eine neue Studie legt Eltern nun nahe, ihren Kindern gewisse Freiheiten zuzugestehen.

„Kinder an die Macht“, sang einst Herbert Grönemeyer. Dieser Wunsch ist illusorisch. Einen großen Einfluss auf ihr Umfeld haben die Heranwachsenden dennoch. Ihre Stimmung prägt oftmals das Wohlbefinden der gesamten Familie. Mit strengen Erziehungsmethoden kommt man meist nicht weit. Je mehr man die eigene Tochter dazu drängt, doch endlich die anstehende Mathematikhausaufgabe zu erledigen, je resoluter man den Sohn dazu motivieren möchte, nur einmal die Finger vom Smartphone zu lassen und sich lieber an der frischen Luft zu bewegen, desto massiver wird der Widerstand. In der Folge liegen die Nerven aller Beteiligter blank – besonders in Zeiten von Homeschooling und Homeoffice.

Ö1-Sendungshinweis:

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen Aktuell, 13.55 Uhr

Diese persönliche Beobachtung vieler Eltern wird nun von einer aktuellen Studie indirekt bestätigt. Wissenschafterinnen und Wissenschafter des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) haben während des ersten Lockdowns im vergangenen April 562 Mütter und Väter gefragt, wie sie mit ihren Kindern umgehen. Die Heranwachsenden waren zwischen sechs und 19 Jahre alt, der Fokus lag auf schulpflichtigen Kindern. Die Familien wurden drei Wochen lang täglich mittels eines Onlinefragebogens begleitet. „Besonders gut gefahren sind Eltern, die ihren Kindern Entscheidungsspielräume innerhalb bestimmter Grenzen gelassen haben“, berichtet der Studienleiter und Psychologe Andreas Neubauer.

Kleine Freiheiten, große Wirkungen

Beispielsweise könne man den Heranwachsenden überlassen, welche Aufgaben sie im Homeschooling zuerst erledigen wollen. „Auch wenn man Kinder zu körperlicher Aktivität ermuntern möchte, hilft es, ihnen einen Gestaltungsspielraum zuzugestehen. Wollen sie eher Fahrradfahren, oder doch ein Sportprogramm über das Internet streamen. Man sollte Kindern das Gefühl geben, dass sie selbst Entscheidungen treffen können. Auch im kleinen Rahmen kann das schon positive Effekte haben.“

Es hebt die Stimmung der Kinder und motiviert sie zusätzlich. Was wiederum zu mehr Erfolgen führt. Was wiederum Eltern veranlasst ihren Kindern in Zukunft mehr Freiheiten zuzugestehen. Was wiederum das Wohlbefinden der gesamten Familie verstärkt. Gleichzeitig können Mütter und Väter auch vermehrt ihren eigenen Interessen nachgehen. Neubauer beruft sich auf die Selbstbestimmungstheorie der amerikanischen Psychologen Richard M. Ryan und Edward L. Deci. Demnach haben alle Menschen drei Grundbedürfnisse: Autonomie, Kompetenz und Beziehungserleben.

Kein Laissez-Faire

Kinder bräuchten aber ebenso Grenzen. Diese müssten allerdings klar kommuniziert und auch nachvollziehbar sein. „Das ist bei Kindern nicht viel anders, als bei Erwachsenen. Auch wir tun Dinge, wenn uns deren Notwendigkeit einleuchtet. Auch wir halten uns eher an Covid-Maßnahmen, wenn wir verstehen, warum sie notwendig sind.“

Die an der Studie beteiligten Eltern verfügten fast alle über einen höheren Bildungsabschluss und stammten aus wohlhabenderen Verhältnissen. „Das war nicht beabsichtigt. Unserem Aufruf sind insbesondere Mütter und Väter aus diesem Milieu gefolgt“, erklärt Neubauer.

Soziale Umstände entscheidend

Die Situation ist derzeit vor allem für Familien belastend, die auf engem Wohnraum leben und Schwierigkeiten haben, ihre Kinder bei den Schulaufgaben zu unterstützen. „Das ist ein ganz wichtiges Thema“, betont Neubauer. Er selbst plane zwar keine Studien in diese Richtung, sei aber Teil des „Zentrums zur Erforschung von Entwicklungs- und Lernprozessen, IdeA“, welches sich spezifisch mit den aktuellen Herausforderungen betroffener Familien auseinandersetzt.

Unabhängig von sozialer Herkunft – die derzeitigen Umstände werden für alle zunehmend schwierig. Umso wichtiger sei es den Druck auf sich selbst, wie auch die Kinder zu verringern, so der Psychologe. „Eltern sind keine Lehrer. Man sollte nicht den Anspruch haben, alles perfekt hinzubekommen und auch immer die Grundbedürfnisse aller Familienmitglieder im Blick behalten.“