Das europäische Parlament im Jänner 2021
AFP/JOHN THYS
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Coronavirus

Forscher fordern paneuropäischen Plan

„Epidemiologisch ist Europa ein Gebiet“, so hat es die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel auf den Punkt gebracht. Auch eine Gruppe europäischer Wissenschaftler fordert dringend einen übergreifenden Eindämmungsplan für den Kontinent, vor allem angesichts der in den meisten Ländern unklaren Verbreitung der ansteckenderen neuen Sars-CoV-2-Varianten. Man müsse die drohenden Entwicklungen ernster nehmen.

Noch wisse man nicht gesichert, um wie viel ansteckender die neuen Mutationscluster aus Großbritannien und Südafrika (B.1.1.7 und B1.35) tatsächlich sind, so die Mitinitiatoren der Veröffentlichung im Fachblatt „The Lancet“. Erste Schätzungen von einer bis zu 70 Prozent höheren Infektiösität müsse man glücklicherweise vermutlich nach unten korrigieren. Neue Erkenntnisse würden bei B.1.1.7 eher in Richtung 30 bis 35 Prozent Erhöhung weisen, sagten Peter Klimek vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) und der Medizinischen Universität Wien und Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien, die an der paneuropäischen Initiative beteiligt sind. Bereits im Dezember hatte die Gruppe die erste Version des Aufruf im Fachblatt „The Lancet“ publiziert.

Letzterer verwies vor Journalisten darauf, dass in Österreich und in Gesamt-Europa viele drohende Entwicklungen in der Pandemie schlichtweg nicht erstgenommen wurden, wie etwa die Vorbereitung auf den Winter und das lange Leugnen weiterer Lockdowns. Daher weise die wissenschaftliche Gemeinde nun eindringlich darauf hin, dass die neuen Varianten problematisch sind. Es stellten sich nämlich auch Fragen dazu, ob diese dem Immunsystem besser entkommen kann. Bei einer um rund 30 Prozent höherer Übertragungsrate sei eine exponentielle Entwicklung der Neuansteckungen „wesentlich wahrscheinlicher“. Steige dadurch die Reproduktionszahl (R) von in etwa eins auf rund 1,4 sei dies „schwer zu beherrschen“, sagte Czypionka.

Auf Problem vorbereiten

Mitentscheidend sei, wie hoch die Verbreitung hierzulande und in Kontinentaleuropa schon ist, denn davon hängt stark ab, wann Effekte in den Infektionszahlen zu erwarten sind, so die Wissenschaftler. Trotz gesteigerter Anstrengungen bei deren Identifizierung habe man in Österreich und vielen anderen Staaten nun „wie so oft in der Pandemie eine Datenproblematik“. Die Genomsequenzierungen gebe es hierzulande nur wegen den Initiativen von Einzelpersonen und Forschungseinrichtungen. Würden nicht andere Länder, wie Großbritannien oder Dänemark in der Viren-Variantenanalyse so viel tun, „wäre Österreich de facto blind gewesen“, betonten der IHS-Forscher und Klimek.

Es sei tatsächlich keine Frage ob, sondern wann sich die neuen Stämme durchsetzen, die dann mehr Verbreitungspotenzial haben, betonte Klimek. Einerseits drückt der verlängerte Lockdown die Zahlen glücklicherweise insgesamt, trotzdem könnte sich B.1.1.7 bereits exponentiell verbreiten, ohne dass es in den unmittelbaren Zahlen abzusehen ist. „Dann geht das durch die Decke“, so der Komplexitätsforscher, der hier ein „grundlegendes Problem“ sieht, „auf das wir uns bereit machen müssen“.

Klare Ziele

Europaweit brauche es daher klare Ziele, welche Neuinfektionszahlen man erreichen sollte. Die Wissenschaftler sprechen sich für die mittlerweile breiter akzeptierte 7-Tages-Inzidenz von 50 aus (50 Neuansteckungen pro 100.000 Bewohner und Woche). Bei diesem Wert sei davon auszugehen, dass die Kontaktnachverfolgung greifen könne und die bekannten Maßnahmen insgesamt deutlich besser wirken, wie Analysen zeigen würden.

Dann seien auch Erleichterungen durch Öffnungsschritte realistischer, bei „sichereren“, weil immer noch reduzierten sozialen Kontakten, dem vermehrten Einsatz von FFP2-Masken und gezielterem und breiten Einsatz etwa von den oftmals als „Nasenbohrer-Tests“ bezeichneten neuen Heimtest-Verfahren, so Klimek. In weiterer Folge sollte eine 7-Tages-Inzidenz von zehn angestrebt werden, heißt es in dem Aufruf.

Gerechtere Verteilung der Last

Nicht vergessen dürfe man bei alldem, dass es viele gesellschaftliche Gruppen gibt, die sich zum Beispiel beruflich oder aus familiärer Sicht eine Quarantäne gar nicht mehr erlauben könnten. Dies seien laut Befragungen schon um die 20 Prozent, betonte die Politikwissenschafterin Barbara Prainsack von der Universität Wien. Man dürfe nicht nur „mangelnde Compliance kritisieren“, es brauche vielmehr größere Anstrengungen, um „die Lasten der Krise gerechter zu verteilen“.

Man sei in einer neuen Phase der Krise angelangt und müsse das „Schlaglicht auf soziale Risikogruppen richten“, wie etwa allein lebende Menschen, ältere Personen, Arbeitslose und nicht zuletzt Frauen, die von den Auswirkungen insgesamt stärker betroffen seien. Die Ko-Autorin des Aufrufs wies darauf hin, dass die Gruppe keine Homeoffice-Verpflichtung fordere.

Mehr Unterstützung

Es zeige sich nun auch, dass Menschen, die Covid-19-Eindämmungsvorgaben umgehen, „nicht dumm sind“. Viele würden es einfach nicht mehr schaffen, sich daran zu halten. Es brauche hier also mehr Unterstützung sozial schwächerer Menschen, sagte Prainsack.

Dass die Pandemiemüdigkeit zunehme, liege auch daran, dass es hierzulande an „Konsistenz“ bei den Maßnahmen fehle, sagte Klimek etwa mit Blick auf die Ungleichbehandlung von Schulen und Skigebieten. Das sei nicht hilfreich, weil die „Maßnahmen nicht nachvollziehbar“ werden. Letztendlich brauche es überregionale Strategien, auch bei Reiseeinschränkungen, „intensive Austauschprozesse“ etwa zur Umsetzung und Wirkung von Impfkampagnen und insgesamt verstärktes Lernen der verschiedenen Länder voneinander, so Czypionka.