Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) bei einer Pressekonferenz mit einer Coronavirus-Statistik auf einem Blatt Papier
APA/HANS KLAUS TECHT
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Coronavirus

„Große Lektion, wie Wissenschaft funktioniert“

Die Coronavirus-Pandemie stellt die Wissenschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit wie nie zuvor. Politik und Gesellschaft folgen ihren Ratschlägen – oder auch nicht. Selbst Coronavirus-Leugner berufen sich – sehr wählerisch – auf ihre Ergebnisse. Die Pandemie ist eine „große Lektion, wie Wissenschaft funktioniert“, sagt die Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt.

Damit die Wissenschaft diese Jahrhundertchance nützt, sollte sie ihren Kern offen kommunizieren: eine Einrichtung, die das beste verfügbare Wissen bietet, die aber betont, dass dieses Wissen immer nur vorläufig ist. Ein Resümee über Unsicherheiten, Irrtümer und den Kampfbegriff der Evidenz.

science.ORF.at: Frau Felt, wie haben Sie das Corona-Jahr erlebt?

Ulrike Felt: Ich war im September selbst erkrankt, gemeinsam mit meinem Mann. Wir wissen nicht, wo wir uns infiziert haben, weil wir sehr vorsichtig waren. Mein Mann hatte die ganze Palette: Verlust des Geschmackssinns, Atembeschwerden, Fieber. Bei mir war es ganz anders: Ich war in einem Zustand völliger Energielosigkeit, den ich zuvor nicht kannte. Es war furchtbar, meinem eigenen Körper zuzuschauen, wie er nichts mehr kann und will. Nach zwei Wochen war das Gröbste vorbei, aber ich habe die Nachwirkungen lange gespürt.

Porträtfoto von Ulrike Felt
Universität Wien

Ulrike Felt ist Leiterin des Instituts für Wissenschafts- und Technikforschung an der Universität Wien.

Sie haben das Coronavirus am eigenen Leib erlebt – ist die Pandemie aber für Sie als Wissenschaftsforscherin nicht eine einmalige Gelegenheit?

Felt: Das Jahr 2020 war eine einzige große Lektion darüber, wie Wissenschaft funktioniert, wie sie uns helfen kann, aber auch wie wir ihr Zeit geben müssen, dass sie uns helfen kann. Und das ist schwierig in Zeiten, wo man jetzt, hier und heute handeln muss, aber das Wissen über das Jetzt, Hier und Heute noch nicht wirklich hat. Zu Beginn war noch nicht klar, welche Ausmaße dieses Realwelt-Experiment annimmt – wir haben ausprobiert, wie wir auf die besondere Lage reagieren können. Dann hat man schön beobachten können, wie Wissenschaft und Gesellschaft ineinandergreifen: die Schwierigkeiten der Gesellschaft, mit so einem komplexen Problem umzugehen, und der Wissenschaft, schnelle und klare Antworten zu geben. Alles war in Bewegung.

Wie hat sich die Wissenschaft dabei gehalten, speziell zu Beginn, als es noch wenig Wissen gab?

Felt: Im März 2020 stammte die Expertise fast ausschließlich aus der Naturwissenschaft, allen voran der Virologie, Epidemiologie und Modellierer. Am besten konnte man das an der Zusammensetzung der Corona-Kommission sehen. Erst langsam ist man draufgekommen, dass die Pandemie auch ein soziales und politisches Ereignis ist und entsprechend auch andere Expertise braucht. Auch sehr spannend fand ich, dass wir in dieser großen Form zum ersten Mal die Frage von Daten und Modellen öffentlich diskutiert haben. Modelle sind immer nur so gut, wie die Daten und Annahmen, die sie enthalten – dementsprechend sind viele Modelle auch danebengelegen und haben Dinge vorhergesagt, die gar nicht eingetreten sind.

Allgemeinmedizinerin Reingard Glehr, Tropenmediziner Herwig Kollaritsch, wissenschaftl. Vorsitzende des Nationalen Impfgremiums Ursula Wiedermann-Schmidt, MedUni Wien-Rektor Markus Müller und Arbeitsmedizinerin Eva Höltl im Rahmen der Präsentation der Initiative „…sterreich impft“ im Bundeskanzleramt in Wien.
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Expertinnen und Experten bei der Präsentation der Initiative „Österreich impft“ im Bundeskanzleramt in Wien

Auf Basis dieser Modelle sind aber auch viele Entscheidungen getroffen worden, siehe das berühmte „Mathematiker-Papier“, das die 100.000 Toten in Österreich prognostizierte …

Felt: Zwischen Wissenschaft und Politik besteht ein Spannungsfeld – meiner Ansicht nach ist es wichtig, diese beiden Sphären zu verschränken und sie zugleich getrennt zu halten. Ein wissenschaftliches Modell kann immer nur eine Unterstützung für eine politische Entscheidung sein, aber nie ein Ersatz für politische Abwägungen. Weil in einem epidemiologischen Modell z.B. keine psychosozialen oder wirtschaftlichen Folgen enthalten sind. D.h., wir brauchen zusätzliche, interdisziplinäre Expertise. Am Ende des Tages ist es aber immer eine politische Entscheidung und keine rein wissenschaftliche. Das ist mitunter durcheinandergeraten und führt zur Frage, ob die Politik sofort ihre Entscheidungen ändern muss, wenn die Wissenschaft neue Einsichten liefert. Hier muss umsichtig abgewogen werden.

Experten und Expertinnen haben sich im Lauf der Pandemie oft geirrt und ihre Meinung geändert. Ist das ein Problem?

Felt: Nein, sie sollten nur erklären, warum sie ihre Position geändert haben. Also was ist passiert, was hat dieses Umdenken hervorgebracht? Weil dann könnte man nachvollziehen, wie die Wissenschaftler in ihrer Erkenntnis voranschreiten und zu einer Meinung kommen. Das wäre ein wichtiger Input für die Gesellschaft. Das haben wir sehr schön bei der Masken-Diskussion gesehen. In unserer Kultur war Maskentragen unüblich, und daher war zuerst die Haltung auch vieler Experten auf gut Wienerisch „Na, muass des sein?“. Und dann hat man Gründe gefunden, „warum des ned sein muass“. In anderen Kulturen, allen voran Asien, sind Masken hingegen als Beitrag zur Hygiene selbstverständlich. Wissenschaftliche Studien dazu gab es kaum. Aber wir wussten natürlich, dass Masken schützen, weil wir sie in Spitälern verwenden. Mittlerweile haben wir auch im Alltag dazu gelernt. Diesen Prozess des Lernens besser sichtbar zu machen, fände ich wichtig – er betrifft die Wissenschaft genauso wie den Alltag. Die Wissenschaft ist zwar spezialisierter und komplexer, aber auch sie muss revidieren können, und zwar auch öffentlich.

Ö1 Sendungshinweis:

„Die Potenz der Evidenz“: Corona als Bewährungsprobe für die Wissenschaft, Dimensionen, 25.1, 19.05 Uhr

Wissenschaft beruht nicht auf Privatmeinung, sondern auf Evidenz – noch ein Begriff, den die Öffentlichkeit durch Corona gelernt hat – also auf den Ergebnissen von Studien und ihnen zugrunde liegenden Daten. In der Pandemie gab es die anfangs nicht, weil das Virus neu war und sich die Daten auch widersprochen haben, etwa was die Sterberaten betrifft …

Felt: Das liegt vor allem daran, dass wir es hier mit einer Krankheit zu tun haben, bei der ein Großteil keine sichtbaren Symptome hat und unser Gesundheitssystem eigentlich auf Erkrankte ausgerichtet ist, die Symptome zeigen. Also, keine verlässlichen Daten. Wie man Sterbestatistiken führt, kennen wir von Aids. Wer HIV-positiv ist und an Brustkrebs verstirbt, gilt dennoch als „HIV-Verstorbene“. Deshalb auch die Formulierung „an oder mit dem Coronavirus verstorben“, die sich mittlerweile durchgesetzt hat. Das zeigt, dass wir oft gar nicht unterscheiden können, ob jemand am Coronavirus oder an anderen Vorerkrankungen gestorben ist. Ähnlich schwierig ist auch die Frage der Übersterblichkeit. Denn durch die vorgeschriebene soziale Distanzierung kommen bestimmte Krankheiten seltener vor, und damit wird das Zählen der Übersterblichkeit schwierig. Was aber den Beispielen zugrunde liegt, ist ein unglaubliches Vertrauen in Zahlen, das sich seit dem 19. Jahrhundert entwickelt hat. Mit der Pandemie mussten wir aber lernen, dass hinter diesen Zahlen oft Unsicherheiten stecken und sie kein eindeutiges, unwiderrufliches Instrument sind, sondern immer interpretiert werden müssen.

Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) bei einer Pressekonferenz mit einer Coronavirus-Statistik auf einem Blatt Papier
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Gesundheitsminister Anschober (Grüne) bei einer Pressekonferenz mit Anschauungsmaterial

Mit Zahlen und Daten argumentieren auch Corona-Skeptikerinnen und -Leugner. Wodurch kann man deren „Evidenzen“ von wissenschaftlichen unterscheiden?

Felt: Evidenz wird fast wie ein Kampfbegriff verwendet, um Kritik abzuwehren, aber sie ist nicht einfach gegeben, sondern was als relevante Evidenz zählt, wird in der Wissenschaft verhandelt. Es gibt nicht die Evidenz für etwas, sondern Evidenz entsteht in einem Prozess. Man muss sich daher fragen, wie sie entstanden ist und wer sie wo, wie hergestellt hat. Der Erfolg der Wissenschaft beruht darauf, dass man sich einigt, wie Daten produziert werden, was als ausreichende Evidenz zählt und dass es genügend Personen mit ähnlichem Know-How zur gegenseitigen Kontrolle gibt. Dieses Netzwerk macht wissenschaftliches Wissen robust. Je größer dieses wissenschaftliche Netzwerk ist, je weniger Abhängigkeitsverhältnisse darin bestehen und je weniger wir vorgefasste Meinungen haben, desto mehr Vertrauen können wir in die Evidenz haben. Im Unterschied dazu gibt es Netzwerke mit vorgefassten Meinungen, die beliebig nach Evidenz für die eigene Position suchen. Da wird keine Kontrolle von außen geübt, sondern es verstärken sich die schon vorher bestehenden Positionen.

Die Expertinnen und Experten schienen zu Beginn der Krise wie aus einem Mund zu sprechen. Je länger sie dauert, desto mehr Unterschiede zeigten sich.

Felt: In einer Krisensituation wie im März halte ich das für ein normales Phänomen, wir hatten in Österreich einen Diskurs des „nationalen Schulterschlusses“, quer durch die politischen Lager. In der Zeit war es so, dass man das Gefühl hatte, dass die Begründungen, warum wir etwas machen, sehr stark auf wissenschaftlichen Überlegungen basieren, daher hat man große Akzeptanz empfunden. Aber natürlich war das ein Versprechen in die Zukunft, d.h., wenn die Wissenschaft weiß, was richtig ist, und man ihr folgt, dann wird das Problem gelöst sein. Und dann mussten wir lernen: Die Wissenschaft ist immer auf dem Weg zum Wissen, sie hat es nicht schon fertig in der Tasche. Und Politik muss trotzdem handeln.

Das ist aber nicht unbedingt die Art, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mitunter auftreten …

Felt: Ja, und das halte ich für einen grundlegenden Fehler in der Wissenschafts-Kommunikation. Wir kommunizieren Wissenschaft als etwas, das in kurzer Zeit klare und sichere Erkenntnisse produziert. Was wir überhaupt nicht vermitteln, ist, dass Wissenschaft immer in Entwicklung ist und dass es sehr lange dauern kann, bis sie Ergebnisse liefert. Es wäre essenziell, dass die Wissenschaft lernt, in der Kommunikation Unsicherheiten mit zu kommunizieren.

Ein Ratschlag, der auch für die aktuelle Impfkampagne gelten sollte?

Felt: Auf jeden Fall. Impfungen sind die Lösung für ein Problem, aber sie werfen gleichzeitig neue Fragen auf, die wir erst erforschen müssen. Sie sind ein Schritt, das Beste, was wir haben, aber vielleicht werden wir in ein paar Jahren oder Monaten auch hier mehr Klarheiten und Verbesserungen haben.