Die Sonne scheint hinter Wolken hervor
Prazis Images – stock.adobe.com
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Gedenktag

Eine Welt ohne Holocaust

Anti-CoV-Demonstranten mit Judensternen und der Typ mit dem „Camp Auschwitz“-Hoodie bei der Erstürmung des Kapitols: Niederträchtige Holocaust-Relativierungen wie diese sind nicht selten. In der Populärkultur gibt es aber auch ganz andere Um-Erzählungen, an die am Holocaust-Gedenktag erinnert werden soll: Sie beschreiben alternative Welten, in denen der Massenmord niemals stattfand.

Alternate history heißt das Genre, das ab Mitte des 20. Jahrhunderts immer beliebter wurde. In Filmen, Büchern und Videospielen wird dabei der Frage „Was wäre, wenn?“ nachgegangen. Was wäre, wenn Hitler nie geboren wäre? Und wenn es die Schoah nie gegeben hätte? Die Antworten darauf sind im besten Fall keine sophistischen Taschenspielereien, sondern ein Stück Selbstermächtigung für die Opfer der realen Geschichte.

Rachefantasie von Tarantinos „Basterds“

Das wohl populärste Beispiel dafür ist der Film „Inglorious Basterds“. Regisseur Quentin Tarantino zeigte 2009 darin ein fiktives Universum, in dem amerikanisch-jüdische Soldaten Hitler erschießen und eine jüdische Kinobesitzerin mit ihrem schwarzen Freund den Nazis in Paris den Garaus machen. „Als Rachefantasie funktioniert der Film sehr gut“, sagt der Kulturwissenschaftler Caspar Battegay von der Universität Basel gegenüber science.ORF.at. „Eli Roth etwa, jüdischer Schauspieler im Film und selbst Horror-Regisseur, hat in einem Interview gemeint, dass er genau solche Szenen immer sehen wollte.“

Auf einer Metaebene zeige der Film aber noch etwas anderes, nämlich „dass die Erinnerung an den Holocaust so stark mit von Filmen geprägten Bildern verstrickt ist, dass es kein unmittelbares Erinnern mehr an dieses historische Trauma gibt.“ Mit diesen Bildern arbeitet auch ein Video der deutschen Rockband Rammstein. Im Song “Deutschland“ schießen die Bandmitglieder, als Häftlinge verkleidet, KZ-Wärter in den Kopf – eine Szene, die es historisch nicht gegeben hat, die aber „symptomatisch ist für den Boom des kontrafaktischen oder parahistorischen Erzählens in der Gegenwart“, so Battegay.

Quentin Tarantino neben einem Plakat seines Films „Inglorious Basterds“ 2009
AP – AKIRA SUEMORI
Quentin Tarantino neben einem Plakat von „Inglorious Basterds“ 2009

19. Jahrhundert: Geschichte, wie sie wirklich war

Begonnen hat diese Gattung der Utopie freilich nicht mit der Schoah. Die erste alternate history in Romanlänge macht der Literaturwissenschaftler in dem Buch „Napoléon et la conquête du monde“ aus dem Jahr 1836 aus. Der Autor Louis Geoffroy lässt Napoléon darin bei Waterloo siegen und zum Weltdiktator aufsteigen. Wirklich populär waren solche Geschichtsvarianten im 19. Jahrhundert aber nicht.

Online-Lecture

Caspar Battegay hält die Simon-Wiesenthal-Lecture “Um-Deutung, Um-Erzählung, Dekontextualisierung. Die Shoah in der Gegenwart" online: 28. Jänner 2021, 18.30 Uhr.

In der entsprechenden Zunft der Wissenschaft, unter Historikern, lautete das Credo, Geschichte soll so erzählt werden, „wie sie wirklich war“. Dies dekonstruierte etwa der Historiker Hayden White als rhetorische Illusion. So blieb von dieser Illusion nach dem Zusammenbruch der großen ideologischen Erzählungen im 20. Jahrhundert nicht viel übrig. Als Ursachen dafür sieht Battegay auch eine Mischung aus „offeneren“ Weltbildern, der rasanten Ausbreitung der Populärkultur und neuer Mediennutzung.

Alternativgeschichtliche Darstellungen wurden speziell in den angelsächsischen Ländern beliebt, und hier gerne mit dem Fokus Zweiter Weltkrieg. Philip K. Dicks Roman „The Man in the High Castle“ ist ein bekanntes und erst vor Kurzem zu einer TV-Serie gekröntes Beispiel.

Schoah bleibt als Potenzialität

Ein anderes und aktuelleres ist der Roman „Der Komet“ (Leseprobe) aus dem Jahr 2013, in dem der Autor Hannes Stein eine Welt ohne Ersten und Zweiten Weltkrieg beschreibt. Wien ist das Zentrum dieser Welt, der Mond eine deutsche Kolonie, Juden und Jüdinnen leben erfolgreich in Europa. In Alpträumen von Protagonisten sind die Schrecken der Schoah aber auch hier präsent. „Vielleicht ist der Text literarisch nicht so stark“, urteilt der Literaturwissenschaftler Battegay. „Er zeigt aber, dass die Schoah selbst in einer Welt ohne Schoah wiederauftaucht.“ Der „Zivilisationsbruch“, wie es der Historiker Dan Diner genannt hat, bleibt als Potenzialität und Referenzpunkt im Alptraum vorhanden.

Auch Romane wie „Making History“ (Hitler wird hier durch eine Zeitreise verhindert – nicht aber die Vernichtung der Juden) von Stephen Fry und „Pfeil der Zeit“ (die Zeit läuft rückwärts, der Massenmord endet mit der Entstehung „einer neuen Rasse“) von Martin Amis würden laut Battegay zeigen, wie stark der Holocaust das Verständnis von historischer Zeit geprägt hat. „Sie offenbaren, was ein Trauma ist – nämlich, dass man immer wieder drauf zurückgeworfen wird, dass es nicht möglich ist, sich von ihm zu lösen – auch nicht in der alternate history.“

„Ungeimpft“ steht auf einem nachgebildeten Judenstern am Arm eines Mannes, Teilnehmer einer Anti-Corona-Demonstration in Deutschland
APA/dpa/Boris Roessler
Teilnehmers einer Anti-Corona-Demonstration in Deutschland im Mai 2020

Keine Geschichtsflucht, kein Revisionismus

Das Genre der Alternativweltgeschichten sei keine Flucht aus der Geschichte, betont Battegay. „Je länger die Schoah zurückliegt, desto mehr wächst die Bedeutung dieses Erzählens. Denn es stellt nicht mehr die Illusion auf, dass man Geschichte so erzählen kann, wie sie gewesen ist, sondern sie beinhaltet immer eine Reflexion, auf die Frage, wie man Geschichte erzählen kann.“

Mit einer Relativierung oder gar Revisionismus habe das nichts zu tun. Im Gegensatz zu den stolzen Trägern und Trägerinnen von Judensternen auf Anti-Corona-Demos, die sich an den Worten des ehemaligen FPÖ-Anführers Heinz-Christian Strache orientieren (“Wir sind die neuen Juden“), zeichnen sich die literarischen Umdeutungen durch einen ironischen Gestus aus. „Sie erzählen ohne historisches Pathos, sind dafür ambivalent und selbstbezüglich – und weisen deutlich darauf hin, dass sie fiktiv sind.“