Mehrere Menschen blicken und gehen Richtung Kamera
AFP – TOLGA AKMEN
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Covid-19

Weiter Weg zur Herdenimmunität

Ist ein großer Teil der Bevölkerung bereits immun gegen das Coronavirus, kann sich der Erreger nicht mehr ungehindert ausbreiten. Wie weit sind wir von diesem Zustand entfernt? In Österreich haben sich laut aktuellen Berechnungen erst sieben Prozent infiziert – die Herdenimmunität sei noch lange nicht erreicht, so die Studienautoren.

60 bis 70 Prozent. So hoch müsse der Anteil Immunisierter bzw. Geimpfter sein, damit die Herdenimmunität erreicht sei, sagte Anthony Fauci zu Beginn der Pandemie. Ein halbes jahr später sprach der US-amerikanische Immunologe und Regierungsberater dann von 85 Prozent. Das hat ihm Kritik eingebracht. Man kann es aber auch als Zeichen dafür sehen, dass Fauci bereit ist, seine Einschätzung an das volatile Infektionsgeschehen anzupassen – auch wenn ihm das als Wankelmut ausgelegt wird.

Beweglicher Prozentsatz

Der Schwellenwert der Herdenimmunität ist keine Naturkonstante, sondern von vielen Faktoren abhängig: vom Alter und vom Verhalten der Bevölkerung, von der Verteilung der Impfstoffe – und nicht zuletzt von der Übertragbarkeit der Viren selbst. Die Beurteilung letzterer hat sich etwa mit dem Aufkommen der neuen Virusmutanten aus England, Südafrika und Brasilien verändert.

Angesichts all dieser Unsicherheiten wollen sich Miguel Sánchez-Romero und Vanessa di Lego auf keine Prozentangabe festlegen. Ein konkreter Wert ist von den beiden Demographen der Akademie der Wissenschaften im ORF-Interview nicht zu erfahren, sehr wohl aber Zahlenmaterial zur Frage: Wie viele Menschen haben sich in Österreich seit Beginn der Pandemie infiziert?

Lücken bei Testungen

Um das zu beantworten, haben Sánchez-Romero und di Lego ein Modell entworfen, das die Dunkelziffer an Infektionen abschätzt und somit auch zeigt, wie viele Fälle unerkannt durch das ausgebreitete Netz an Coronavirus-Tests schlüpfen. Resultat: In Österreich haben sich laut AGES-Daten vom 19. Jänner knapp sieben Prozent der Gesamtbevölkerung mit dem Coronavirus infiziert. Höchstens 60 Prozent der Infektionen wurden durch die Behörden erfasst, die Testungen sind also nicht so effektiv, wie man sich das erhofft hat.

Für die kontrollierte Annäherung an die Herdenimmunität ist das keine gute Nachricht, zumal die Dunkelziffer auch in anderen Ländern relativ niedrig ist. In von der Pandemie stark betroffenen US-Bundesstaaten – wie zum Beispiel New York oder New Jersey – dürften weniger als 20 Prozent infiziert worden sein, schreiben Sánchez-Romero und di Lego in ihrer soeben im Fachblatt „PLOS ONE“ erschienen Studie. Mit natürlicher Immunisierung ist die Herdenimmunität in überschaubaren Zeiträumen wohl nicht zu erreichen. Als Politikstrategie sei sie somit „ungeeignet“, resümiert di Lego. Für die Praxis bedeutet das: „Ohne soziale Distanz und das Tragen von Masken lässt sich das Virus nicht kontrollieren“, so Sánchez-Romero.

Impfungen: Knackpunkt Virus-Übertragung

Wie sieht es mit Impfungen aus? Lässt sich der Schwellenwert zumindest auf diesem Weg erreichen? Das wollen die beiden Wissenschaftler nicht ausschließen, eine entsprechende Studie sei gerade in Vorbereitung – die Antwort, so betonen die beiden, hänge aber von der Wirkung der Impfungen ab. Falls diese bloß schwere Erkrankungen verhindern, nicht aber die Weitergabe des Virus, könnte die Herdenimmunität auch mit Impfung schwer zu erreichen sein. Laut Pfizer-CEO Albert Bourla gibt es in dieser Hinsicht immerhin „ermutigende“ Daten. Im Tierversuch sei bereits nachgewiesen worden, dass der mRNA-Impfstoff auch die Übertragung verhindert. Ob das auch beim Menschen so ist, soll im Februar geklärt sein.

Oswald Wagner, Vizerektor der MedUni Wien, formulierte vor einer Woche ein anderes, leichter zu erreichendes Ziel. „Wenn die vulnerablen Gruppen – also die über 65-Jährigen und Menschen mit Vorerkrankungen – geimpft sind, dann wird diese Krankheit ihren Schrecken verlieren und sich wandeln zu einer ganz normalen Erkrankung.“

Voraussetzung dafür ist freilich, dass die entsprechenden Impfstoffdosen verfügbar sind. Auch hier gibt es noch einige Unbekannte in der Gleichung. Die bisher präsentierten Impfläne für Österreich dürften sich wegen Lieferschwierigkeiten der Hersteller verzögern, dazu kommt: Die deutsche Impfkommission empfahl kürzlich eine Überarbeitung der Impfempfehlungen. Der Impfstoff von AstraZeneca soll demanch nur für 18- bis 64-Jährige verwendet werden, nicht aber für jene über 65.