Schmelzendes Meereis in der Arktis
Arktis

Der verschwundene Süßwasser-Ozean

Forscher haben die Geschichte des Nordpolarmeeres rekonstruiert – und in Sedimenten eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Der Arktische Ozean war während der letzten Eiszeiten vollständig mit Süßwasser befüllt.

Kilometerdicke Eisschilde bedecken das Land, die Eismassen, Gebirgen gleich, reichen von Irland über Skandinavien bis hin zum Ostrand der Karasee: Wie der europäische Kontinent während der Weichsel-Kaltzeit vor 60.000 bis 70.000 Jahren aussah und welche Verhältnisse damals herrschten, darüber wissen Klimahistoriker recht gut Bescheid. Vor allem deshalb, weil die Eisschilde Kratzspuren und Einkerbungen an der Erdoberfläche hinterlassen haben, die heute noch sichtbar sind. Anders ist das mit dem längst verschwundenen Meereis. Schmelzwasser hinterlässt keine Spuren, jedenfalls keine direkt sichtbaren.

Meeresspiegel 130 Meter tiefer

Indirekte Hinweise auf die Existenz von schwimmenden Gletschern auf dem Arktischen Ozean und dem Europäischen Nordmeer hat jetzt ein Team um Walter Geibert entdeckt. „Die beiden Meere“, sagt der Geochemiker vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, „bezeichnen wir auch als ‚Mittelmeer des Nordens‘, weil sie relativ stark eingeschlossen sind.“ Verbindungen zum Nordatlantik sowie dem Pazifik gibt es heutzutage freilich. Und damit auch einen stetigen Wasseraustausch. Doch während der Weichsel-Kaltzeit war das anders. Damals lag der Meeresspiegel rund 130 Meter tiefer, das „Mittelmeer des Nordens“ war vollständig isoliert und offenbar mit Süßwasser befüllt.

“Ein Schock“

Diese von Flüssen und sommerlichem Schmelzwasser angetriebene „Aussüßung“ der Arktischen See dürfte innerhalb weniger Tausend Jahre passiert sein, wie Modellrechnungen nahelegen. Das Nordpolarmeer sah jedenfalls völlig anders aus als heute: wie ein riesiger Topf mit Deckel, innen dunkel, oben von einer Hunderte Meter dicken Eisschicht bedeckt. Gleiches gilt laut der soeben in „Nature“ veröffentlichten Studie auch für eine andere Kälteperiode, nämlich für die Saale-Kaltzeit vor 150.000 bis 130.000 Jahren.

Grafik: Arktische See war während der Eiszeit von den umgebenden Meeren isoliert und mit Süßwasser befüllt
Alfred Wegener Institute/Martin Künsting
Das Arktische Becken während der Kaltzeiten

„Mit diesen Ergebnissen stellen wir die bislang geltende Vorstellung von der Geschichte des Arktischen Ozeans im Eiszeitklima auf den Kopf. Bisher ist niemand auf die Idee gekommen, dass der Arktische Ozean und das Europäische Nordmeer in dieser Zeit phasenweise nur Eis und Süßwasser enthielten – und das nicht nur einmal, sondern mindestens zweimal. Wir hatten bereits Zeit uns daran zu gewöhnen“, sagt Geibert im Gespräch mit dem ORF. „Aber für manche Fachkollegen könnte das ein Schock sein.“

Isotopenanalyse: Fehlendes Thorium

Dem bisher unbekannten Kapitel der Klimageschichte auf die Spur gekommen waren die Forscher mit Hilfe des Isotops Thorium-230. Das Isotop entsteht im salzhaltigen Meerwasser durch den Zerfall von Uran und lagert sich in Sedimenten ab. Wegen seiner Halbwertzeit von 75.000 Jahren wurde es bisher für geologische Altersbestimmungen eingesetzt. Im Fall der Bremerhavener Wissenschaftler sorgte das radioaktive Isotop allerdings für eine Überraschung: In Meeressedimenten, die der Weichsel- und der Saale-Kaltzeit zugeordnet werden, war so gut wie kein Thorium-230 zu finden. Was sich eben nur dadurch erklären lässt, dass es damals auch kein Salzwasser im Arktischen Ozean gab – bzw. stattdessen Süßwasser, denn darin bildet sich das Isotop so gut wie nicht.

Kippschalter im System

Die Erkenntnisse werfen auch neues Licht auf bisher unerklärliche Klimaschwankungen in Grönland. Dort kam es während der letzten Kaltzeit zu kurzfristigen Temperatursprüngen von acht bis zehn Grad. Geibert glaubt, dass diese lokalen Schwankungen vom Süßwasser stammen, das sich in die angrenzenden Meere ergossen – und damit die Meereszirkulation verändert hat.

Was den heutigen Zustand des Arktischen Ozeans angeht, hält die Studie wohl ebenfalls eine Einsicht bereit. Das System ist sensibel und kann nach Überschreiten einer kritischen Temperaturschwelle in einen gänzlich anderen Zustand kippen. „Während der Kaltzeiten lag die globale Temperatur etwa sechs bis sieben Grad niedriger als in der vorindustriellen Zeit. Solche Beträge sind auch bei einer langfristigen Klimaerwärmung in Reichweite“, sagt Geibert. „Nehmen wir an, die Menschheit blickt in 150 Jahren zurück auf die vorindustrielle Zeit. Das wäre aus dieser Perspektive eine Eiszeit.“