Doppelhelix von Erbgut, DNA, Genom
peterschreiber.media – stock.adobe.com
peterschreiber.media – stock.adobe.com
20 Jahre Humangenom

Quelle von Inspiration und Gefahren

Im Februar 2001 sind erste Daten zur Entschlüsselung des menschlichen Erbguts veröffentlicht worden. Riesige medizinische Fortschritte brachte sie entgegen anfänglichen Erwartungen nicht. Dennoch bleibt das Humangenomprojekt ein Meilenstein, etwa was die sofortige Offenlegung von Daten betrifft. Davon profitiert heute die CoV-Forschung – in den DNA-Daten liegen aber auch zahlreiche Gefahren.

Man kann darüber streiten, an welchem Tag die DNA-Entschlüsselung „Geburtstag feiert“. Das größte öffentliche Tamtam gab es am 26. Juni 2000: US-Präsident Bill Clinton und der britische Premierminister Tony Blair verkündeten gemeinsam, dass nun ein erster "Arbeitsentwurf“ vorliege – 97 Prozent des menschlichen Erbgutes seien entschlüsselt. Es handle sich um die „wundersamste Karte in der Menschheitsgeschichte“, sagte Clinton im Weißen Haus in Washington.

Daten innerhalb von 24 Stunden online

Rund ein halbes Jahr später, am 12. Februar 2001, veröffentlichten die führenden Wissenschaftszeitschriften „Nature“ und „Science“ die Sequenz der menschlichen Erbsubstanz zum ersten Mal. Die Daten in „Science“ stammten vom US-Biochemiker Craig Venter mit seinem Unternehmen Celera. „Nature“ publizierte die Informationen aus dem mit öffentlichen Geldern finanzierten weltweiten Human Genome Project (HGP).

Vorangegangen war dem ein jahrelanger Wettlauf bzw. Streit zwischen privaten und öffentlichen Forschungseinrichtungen. „Science“ erinnert zum Jubiläum nun vor allem an den öffentlichen Teil – eine wichtige Grundlage dabei waren die Bermuda-Prinzipien: 1996 hatten sich Vertreter der öffentlichen HGP-Einrichtungen auf den Bermudainseln darauf geeinigt, alle Sequenzdaten innerhalb von 24 Stunden für alle zugänglich online zu stellen. Zwar gab es schon davor Open-Data-Initiativen, deren Nutzerkreise waren aber beschränkt. Die Bermuda-Prinzipien haben die bis dahin bestehende Praxis der Naturwissenschaften, experimentelle Daten erst nach Veröffentlichung einer Studie zu publizieren, verändert.

US-Präsident Bill Clinton mit Craig Venter (li.) und Francis Collins (re.), dem Director der National Institutes of Health’s bei Pressekonferenz am 26. Juni 2000
AFP – JOYCE NALTCHAYAN
US-Präsident Bill Clinton mit Craig Venter (l.) und Francis Collins (r.), dem Direktor der National Institutes of Health’s, bei einer Pressekonferenz am 26. Juni 2000

Beispiel für CoV-Impfentwicklung

Das ist nicht zuletzt in der aktuellen Coronavirus-Pandemie von größter Bedeutung. Das Erbgut von SARS-CoV-2 wurde am 10. Jänner 2020 online veröffentlicht, nur wenige Wochen nach Auftreten der ersten Fälle in China – der Startschuss für weltweite Kooperationen und die sehr schnelle Entwicklung von Testverfahren und Impfstoffen. Open-Science-Ansätze, inspiriert vom Humangenomprojekt, gibt es heute aber auch in vielen anderen Bereichen – von der Chemie und Physik bis zur Astronomie und Mathematik.

In der Medizin hat das ursprünglich für viel Hoffnung gesorgt – Stichworte personalisierte Medizin und Gentherapien. Zwar gibt es mittlerweile eine Reihe gentherapeutischer Verfahren, ihre Herstellung ist aber sehr aufwendig und ihre Anwendung oft sehr teuer. Die Euphorie ist verflogen, am meisten Anlass dazu bietet aus heutiger Sicht die „Genschere“ Crispr/Cas9, die im Vorjahr mit dem Chemienobelpreis gewürdigt wurde.

Gefahren der „algorithmischen Biologie“

Sicher ist, dass das Humangenomprojekt auch ein Meilenstein war für etwas, das „Science“ „algorithmische Biologie“ nennt: also eine datengetriebene Kombination von Biomedizin und Informatik. Im harmlosen Fall führen persönliche DNA-Tests auf einschlägigen Websites gegen Bezahlung zu mehr oder weniger profunden Aussagen über die eigene Herkunft. Die Verknüpfung persönlicher genetischer Daten mit anderen persönlichen Daten birgt aber auch zahlreiche Gefahren – etwa noch mehr Möglichkeiten der Überwachung und Diskriminierung. „Algorithmische Biologie beschreibt unsere Körper immer besser“, heißt es in „Science“, „sie zieht die Biomedizin aber auch immer näher in Richtung der großen IT-Giganten, die diese Daten sammeln und versuchen, sie in Geld zu verwandeln“.

Cover von „Science“ zum 20. Jahrestag der Entschlüsselung des Humangenoms
Charis Tsevis
„Science“-Cover zum Jubiläum

30 Millionen Menschen hätten bisher weltweit ihre DNA individuell entschlüsseln lassen. Das ist zwar auf der einen Seite eine Art von Demokratisierung – 2007 waren es nur zwei Personen gewesen, die beiden US-Biologen Craig Venter und Jim Watson -,aus dieser Datenfülle können Computerprogramme aber auch Aussagen über Menschen treffen, die das gar nicht interessiert.

Mit dem Coronavirus werde sich die genetische Überwachung noch beschleunigen, vermutet „Science“. Die zur Eindämmung der Pandemie nötigen Tests an Grenzen und Flughäfen könnten Regierungen „dazu nutzen, DNA-Datenbanken einzurichten, die viel über die Bevölkerung der Herkunftsländer der Besucher aussagen“. Den daraus entstehenden Kontrollmöglichkeiten gelte es nicht nur technisch zu begegnen, gefordert sei vor allem die Politik. Vor zwei Jahren wurde in den USA etwa ein Gesetz erlassen, das die polizeiliche Verwendung von DNA-Abstammungsdatenbanken bei der Strafverfolgung beschränkt.

Gesetze gegen genetische Überwachung

Weltweit gebe es aber besorgniserregende Entwicklungen. In Kuwait wurde ein – vom Obersten Gerichtshof mittlerweile widerrufenes – Gesetz beschlossen, das die DNA-Entschlüsselung aller Einwohnerinnen und Einwohner vorsah. China sammelte Blutproben der gesamten Bevölkerung in der umstrittenen Region Xinjiang und arbeitet gerade daran, eine Y-Chromosomen-Datenbank für alle männlichen Einwohner einzurichten. Thailand hat vor, eine DNA-Datenbank seiner muslimischen Minderheiten zu erstellen.

Der „genetischen Versuchung“ unterliegen aber nicht nur autoritär gelenkte Staaten, sie liegt auch im Herzen des „Überwachungskapitalismus“, wie das die US-Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff genannt hat. Dagegen helfen würden nur nationale und internationale Gesetze, die Persönlichkeitsrechte stärken und das Sammeln, Verwenden und Aufbewahren genetischer und anderer biometrischer Information regulieren. Auch für die Wissenschaftscommunity würden sich neue Herausforderungen stellen: Jede Zusammenarbeit mit Polizeieinheiten, die Menschenrechte verletzen, sei abzulehnen – „ganz besonders mit der chinesischen Polizei und Armee“.