Das „Mahnmal Aspangbahnhof“ aufgenommen am Donnerstag, 7. September 2017, während der Eršffnung im Leon-Zelman-Park in Wien. V
APA/HERBERT NEUBAUER
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Schoah

Beginn der Deportationen vor 80 Jahren

Vor 80 Jahren, am 15. Februar 1941, haben die Nazis die ersten knapp 1.000 Jüdinnen und Juden aus Wien deportiert. Die „Wiener Transporte“ wurden zum Vorbild für die Logistik des planmäßigen Völkermords, der im Jahr darauf beginnen sollte, schreibt die Historikerin Michaela Raggam-Blesch in einem Gastbeitrag.

Am 15. Februar 1941 wurden 999 jüdische Österreicherinnen und Österreicher aus dem in der jüdischen Schule in der Castellezgasse 35 eingerichteten Sammellager auf offenen Lastwägen zum Wiener Aspangbahnhof transportiert und von dort in die polnische Kleinstadt Opole (heute Opole Lubelskie) deportiert. Nicht einmal 30 von ihnen sollten überleben. Das war der erste von insgesamt fünf Transporten, mit denen im Februar und März 1941 rund 5.000 Jüdinnen und Juden in polnische Kleinstädte im damaligen Generalgouvernement deportiert wurden.

Porträtfoto der Historikerin Michaela Raggam-Blesch
The Schubidu Quartet

Über die Autorin

Die Historikerin Michaela Raggam-Blesch forscht am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien an einem Elise-Richter-Habilitationsprojekt über „Mischehefamilien“ in Wien.

Die Frühjahrstransporte des Jahres 1941 aus Wien gingen damit den großen Deportationen im gesamten Deutschen Reich voraus, die im Oktober 1941 begannen. Da die Organisation und Durchführung dieser Deportationstransporte bereits in ähnlicher Form verliefen, wie sie reichsweit erst im Herbst 1941 zur Anwendung kommen sollte, wird ihre Bedeutung für die Geschichte des Holocaust in der gegenwärtigen Forschung neu diskutiert.

Initiator Baldur von Schirach

Am 23. Jänner 1941 wurde Josef Löwenherz, Amtsleiter der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), ins Reichssichterheitshauptamt (RSHA) in Berlin zitiert. Nach seinem Aufenthalt in Lissabon, wo er mit ausländischen jüdischen Organisationen über die Finanzierung der Auswanderung verhandelt hatte, sollte er Adolf Eichmann darüber Bericht erstatten. Da er diesen dort nicht antraf, musste er bei seinem Stellvertreter Rolf Günther vorsprechen. Im Rahmen dieses Gesprächs kam Josef Löwenherz auch auf die sich verdichtenden Gerüchte „über eine unmittelbar bevorstehende Umsiedlung der Juden Wiens nach Polen“ zu sprechen. Günther tat dies als unbegründet ab, obwohl die Entscheidung darüber bereits Anfang Dezember 1940 mit einem Schreiben der Reichskanzlei getroffen worden war.

Vorausgegangen war dem ein Vorstoß des neu ernannten Wiener Reichsstatthalters und Gauleiters Baldur von Schirach. Bei einem Treffen mit Adolf Hitler am 2. Oktober 1940 hatte dieser auf die Abschiebung der Wiener Jüdinnen und Juden gedrängt, wobei sich Schirach auf die in Wien herrschende „Wohnungsnot“ berief. In einem Schreiben der Reichskanzlei vom 3. Dezember 1940 erhielt er die Zustimmung Hitlers und erreichte damit „in Anbetracht der besonders gelagerten Verhältnisse in Wien“ die Genehmigung zu den frühen großen Deportationen aus Wien ins Generalgouvernement.

„Opole, Juni 1941. Ein Massenquartier“. Foto aus einem Brief von Wilhelm Schischa an seine Verwandten in Wien
Gustav Freudmann/Bestand Wilhelm Schischa
Massenquartier in Opole, Juni 1941

Zu diesem Zeitpunkt zählte die jüdische Bevölkerung in Wien noch 61.135 Personen, darunter auch Jüdinnen und Juden aus den Bundesländern, die inzwischen bis auf wenige Ausnahmen bereits nach Wien vertrieben worden waren. Nach dem „Anschluss“ waren etwa 201.000 Österreicherinnen und Österreicher nach den NS-Rassengesetzen als jüdisch definiert worden und von den rassistischen Verfolgungsmaßnahmen der neuen Machthaber betroffen – davon allein rund 180.000 Menschen in Wien. Von jenen, denen die Flucht gelang, wurden viele auch in ihren Zufluchtsländern vom NS-Regime eingeholt.

50 Kilo Gepäck, zwei Paar Schuhe, zwei Decken

Am 1. Februar 1941 – einem Samstag – wurde Löwenherz in die Wiener Gestapo-Zentrale zitiert. Dort wurde ihm von Karl Ebner (der spätere stellvertretende Leiter der Gestapo Wien) und Alois Brunner (Leiter der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“) mitgeteilt, dass geplant sei, „einen Teil der in Wien wohnhaften Juden ins Generalgouvernement umzusiedeln“.

Im zweiten Bezirk wurden in den jüdischen Schulen in der Castellezgasse 35 und der Kleinen Sperlgasse 2a Sammellager errichtet – Letztere eine Schule der Stadt Wien, die zu diesem Zeitpunkt als „Judenschule“ diente. Jede Person durfte 50 Kilogramm Gepäck mitnehmen, das ein zweites Paar Schuhe und zwei Decken beinhalten sollte. Umgesiedelt wurden ganze Familien.

Die Listen der Menschen, die zur Deportation vorgesehen waren, wurde von den SS-Männern der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ ausgewählt. Diese NS-Behörde, 1938 von Eichmann aufgebaut, um die Vertreibung und Beraubung der jüdischen Bevölkerung möglichst rigoros und „effizient“ zu organisieren, wurde 1941/42 zur zentralen Stelle für die Deportationen.

Unbeschreibliches Elend in polnischen Zielorten

Ziel der Wiener Frühjahrstransporte waren die polnischen Kleinstädte Opole, Kielce, Modliborzyce und Łagów/Opatów, die auf die Ankunft dieser großen Anzahl an Menschen völlig unvorbereitet waren. Jakob Engel, 1885 geboren, war im ersten Transport, der Wien am 15. Februar 1941 nach Opole verließ und dort nach dreitägiger Fahrt ankam. In einem Brief an die „Erzbischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“ beschrieb er die katastrophale Situation der Deportierten:

„Dass es solche gottverlassene Dörfer überhaupt gibt, das wusste ich nicht, und Ihr könnt Euch überhaupt kein Bild machen vom Elend. (…) Die Bevölkerung ist arm, wie man sich überhaupt nicht vorstellen kann (…) Auf den Straßen kann man kaum gehen, man versinkt fast im Kot und die Häuser kann ich überhaupt nicht beschreiben, etwas größere Hundehütten. (…) Ich kann Euch sagen, dass mir, als ich ankam, fast der Verstand stehen blieb. Ich kann auch bis heute nicht denken. Ich weiß nicht, wie das weitergehen wird und wie das enden soll. (…) Mit dem Geld, das wir haben, können wir höchstens eine Woche leben und dann können wir glatt verhungern. (…) Wir sind in einer solchen verzweifelten Lage, dass wir überhaupt nicht wissen, was zu tun, und aufs tiefste bedauern, diesem Leben nicht schon zu Hause ein Ende bereitet zu haben.“

Die Suppenausgabe Opole im Juni 1941, die vermutlich von der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe organisiert wurde. Foto aus einem Brief von Wilhelm Schischa an seine Verwandten in Wien
Gustav Freudmann/Bestand Wilhelm Schischa
Suppenausgabe in Opole im Juni 1941, organisiert vermutlich von der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe

Die Last der Verpflegung und Unterbringung der Deportierten fiel den lokalen jüdischen Gemeinden zu. Diese waren zu arm, um sie ausreichend versorgen zu können. Die Lebensbedingungen verschlechterten sich rapide. Bald herrschte Hunger, der zu Epidemien führte.

Einigen wenigen Deportierten gelang es, zu flüchten und sich nach Wien durchzuschlagen, wobei sie sich jedoch der „unerlaubten Rückkehr aus dem Osten“ schuldig machten. Die meisten wurden aufgegriffen und mit den späteren Transporten deportiert. Der Großteil der im Frühjahr 1941 aus Wien ins Generalgouvernement Deportierten wurde ab Frühsommer 1942 gemeinsam mit polnischen Jüdinnen und Juden im Rahmen der „Aktion Reinhard“ in den Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka ermordet.

Vorläufiges Ende der Deportationstransporte

Der letzte Transport des Frühjahrs 1941 mit 997 Personen ging am 12. März 1941 vom Wiener Aspangbahnhof in die polnischen Kleinstädte Lagow und Opatow. Kurz darauf wurden die für 10.000 Personen geplanten Deportationstransporte aufgrund des bevorstehenden Balkan-Feldzuges sowie der Vorbereitungen für den Überfall auf die Sowjetunion vorläufig eingestellt.

Jüdinnen und Juden, die bereits für den sechsten Transport ins Sammellager einberufen worden waren, wurden wieder entlassen. Brunner, Leiter der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, kündigte Löwenherz daraufhin eine „Judenumsiedlungsaktion“ innerhalb der Stadt an. Jüdinnen und Juden sollten aus allen Teilen der Stadt in den 2., 9. und 20. Bezirk übersiedeln. Dabei stellte Brunner diese erneute Zusammendrängung der jüdischen Bevölkerung dezidiert als Alternative zur befürchteten Fortsetzung der Deportationen dar.

Ab Dezember 1939 bestand im „Generalgouvernement“ Kennzeichnungspflicht für Juden und Jüdinnen (weiße Armbinden mit blauem Davidstern).
DÖW
Ab Dezember 1939 bestand im Generalgouvernement Kennzeichnungspflicht für Juden und Jüdinnen (weiße Armbinden mit blauem Davidstern)

Noch war Vertreibung das Ziel

Im Unterschied zu den großen Deportationen, die reichsweit erst im Oktober 1941 begannen, waren die Zielorte dieser ersten Deportationen noch offene Ghettos, in denen sich die Deportierten frei bewegen konnten, wenn auch das Verlassen der Ghettogrenzen verboten war. Ein weiteres Charakteristikum der frühen Deportationstransporte war die Gleichzeitigkeit von Deportation und parallel erfolgender Auswanderung. Die Wiener Kultusgemeinde suchte fieberhaft und verzweifelt nach Auswanderungsmöglichkeiten für ihre Mitglieder.

Erst nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 und den darauf einsetzenden Massenerschießungen zielte die NS-Verfolgungspolitik nicht mehr auf Vertreibung, sondern auf Vernichtung ab. Ab 19. September waren Jüdinnen und Juden im gesamten Deutschen Reich gezwungen, den Judenstern zu tragen. Am 23. Oktober 1941 folgte das Auswanderungsverbot. Auch in Wien saß die jüdische Bevölkerung nun in der Falle, nur wenigen gelang es zu fliehen oder unterzutauchen.

Wiener Transporte Vorbild für reichsweite Deportationen

Entgegen den offensichtlich niemals ernst gemeinten Zusicherungen Brunners begannen im Herbst 1941 im gesamten Deutschen Reich die systematischen Deportationen in die Ghettos, Konzentrationslager und Vernichtungsorte im „Osten“.

Die reichsweite Organisation der Deportationen war ähnlich organisiert wie die Wiener Transporte im Frühjahr 1941: Die Einrichtung von Sammellagern, in denen die Betroffenen interniert und die Transporte von je 1.000 Personen zusammengestellt wurden, die Vorschriften über das mitzunehmende Gepäck, die Beraubung der letzten Besitztümer. Definiert wurden ebenfalls die Ausnahmebestimmungen für Angehörige aus „Mischehefamilien“ und Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft. Auch das Verbot, ohne Zustimmung der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ das „Gaugebiet“ zu verlassen, wurde in Wien bereits im Februar 1941 erlassen – solche Verfügungen traten reichsweit erst im September 1941 in Kraft.

In der gegenwärtigen Holocaust-Forschung werden die Deportationen aus dem Deutschen Reich zunehmend einer vergleichenden Analyse unterzogen. Die Frage nach den Vorläufern und „Blaupausen“ für die späteren Deportationen werden etwa für die „Polenaktion“ im September 1939 und das Deportationsexperiment nach Nisko am San im Oktober 1939 diskutiert. Dabei werden auch die Wiener Deportationen im Frühjahr 1941 aus neuer Perspektive erforscht, denn ihre wesentliche Rolle in der Entwicklung der Organisationsstruktur für die Durchführung der großen reichsweiten Deportationen ab Oktober 1941 ist evident.