Älterer Mann mit Nasen-Mund-Schutz
Bonsales – stock.adobe.com
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Coronavirus

Wie die neuen Varianten entstanden sind

Die neuen Virusvarianten aus Großbritannien, Südafrika und Brasilien versuchen schrittweise, dem menschlichen Immunsystem zu entkommen. Der britische Virenforscher Ravindra Gupta hat diesen Vorgang in Echtzeit beobachtet – im Körper eines Patienten.

science.ORF.at: Herr Gupta, Ihre Kollegin Sharon Peacock von der Cambridge University sagte kürzlich gegenüber der BBC: Varianten des Coronavirus werden uns wohl noch im Jahr 2030 beschäftigen. Wie sehen Sie das?

Ravindra Gupta: Es ist zumindest schwer vorstellbar, wie das Virus komplett verschwinden sollte, nachdem es sich bereits so stark ausgebreitet hat. Es wird wohl eher so wie bei Erkältungsviren sein – nur werden wir in diesem Fall Wege finden müssen, das Virus unter Kontrolle zu bringen, sei es durch Impfungen oder andere Maßnahmen.

Immunologe Ravi Gupta
Jane Stockdale

Zur Person

Ravindra Gupta forscht am Institute of Therapeutic Immunology & Infectious Disease der University of Cambridge.

Im Fachblatt “Nature" erschien kürzlich seine Studie: “SARS-CoV-2 evolution during treatment of chronic infection“.

Werden wir die Impfungen anpassen müssen – und wenn ja: wann?

Ravindra Gupta: Ich gehe davon aus, dass wir sie modifizieren müssen. Wir sehen jetzt schon, dass die neuen Virusvarianten in unterschiedlichen Regionen der Welt ähnliche Mutationen entwickeln. Das Virus beschreitet bestimmte Wege, um unseren Immunsystem zu entkommen. Daher müssen wir dem Virus einen Schritt voraus sein. Ich hoffe, dass wir im Verlauf des Jahres neue Impfungen haben werden. Die Hersteller sagen uns jedenfalls, dass das möglich sein wird.

Ist es ein Zufall, dass sich die neuen Varianten gerade jetzt so stark ausbreiten? Oder steckt da ein Muster dahinter?

Ravindra Gupta: Ich denke, das erzählt uns etwas über die Biologie der Viren. Am besten wissen wir über die britische Variante B1.1.7 Bescheid, da wir in Großbritannien ein recht gutes Überwachungssystem haben und das Erbgut der Erreger oft sequenzieren. Es gibt mittlerweile überzeugende Daten, die uns zeigen, dass das Virus etwa 50 Prozent leichter übertragbar ist. Was die Übertragbarkeit der beiden anderen Varianten angeht, haben wir noch keine wirklich guten Informationen. Der Vorteil für diese Varianten könnte sein, dass sie sich in Teilen der Bevölkerung ausbreiten, die bereits eine gewisse Immunität besitzen. Das ist nicht das Gleiche wie eine bessere Übertragbarkeit – aber auch diese Varianten breiten sich aus, da gibt es keinen Zweifel.

Könnte man sagen, dass die drei Varianten eine Art Evolutionssprung gemacht haben?

Ravindra Gupta: Ja, dieser Sprung hat mit chronischen Infektionen zu tun. Die Entstehung dieser neuen Varianten mit ihren 15 bis 23 Mutationen können wir nur dadurch erklären, dass sie sich in ganz bestimmten Patienten entwickelt haben. Diese Patienten können das Virus in ihrem Körper nicht kontrollieren, entweder durch Krebs oder durch Medikamente, die ihr Immunsystem dämpfen. Und das gibt dem Virus die Möglichkeit zu wachsen. Indem es immer mehr Mutationen ansammelt, lernt das Virus also, wie es das Immunsystem überwinden kann – und beginnt sich dann weiter auszubreiten.

Welche Mutationen zum Beispiel?

Ravindra Gupta: Wir sehen etwa, dass sich E484K – eine Art Fluchtmutation vor dem Immunsystem – nun auch in der britischen Variante ausbreitet. Bei den immungeschwächten Patienten entstehen solche Erbänderungen in kurzer Zeit, sie geben uns also eine Art Vorausblick auf das, was über längere Zeiträume passieren wird.

So einen Fall haben Sie nun genauer untersucht: Was war das für ein Patient?

Ravindra Gupta: Ein Patient in den 70ern. Als wir mit ihm das erste Mal in Kontakt kamen, war er schon seit vier Wochen Corona-positiv. Er hatte ein schlecht funktionierendes Immunsystem wegen einer Krebserkrankung seines Lymphsystems. Er erhielt gegen das Coronavirus eine Plasmatherapie – was aber nicht gut funktionierte. Also begann ich mir Sorgen zu machen: Denn aus meiner früheren Beschäftigung mit HIV wusste ich, dass das HI-Virus Resistenzen gegen Medikamente entwickelt. Ich befürchtete, dass wir hier etwas Ähnliches beobachten könnten. Das bestätigte sich, als wir begannen, das Erbgut der Coronaviren zu sequenzieren: Wir sahen Mutationen, die mit der Plasmabehandlung einhergingen.

Die Plasmabehandlung war also kontraproduktiv?

Ravindra Gupta: Wenn man älteren Patienten das Plasma sehr früh gibt, dann kann die Behandlung den Verlauf der Erkrankung verbessern. Aber wenn Patienten sehr krank sind, dann scheint die Plasmatherapie nicht zu wirken. Natürlich ist es verständlich, dass man es dennoch versucht hat, wir hatten schlichtweg nichts Besseres zur Verfügung. Was wir bei diesem Patienten beobachtet haben: Es entstand eine Population von Viren, die offenbar eine Resistenz entwickelt hatte. Und diese Population wies Ähnlichkeiten zur bekannten Virusvariante B1.1.7 auf, inklusive einiger Schlüsselmutationen.

Welche?

Ravindra Gupta: Zum Beispiel den Verlust von zwei Aminosäuren im Stachelprotein, wir nennen sie die Delta-69/70-Deletion. Wir sahen auch sieben neue Mutationen im Stachelprotein – eine eher besorgniserregende Entdeckung.

Was kann man tun, damit sich solche Virus-Mutanten nicht weiterverbreiten?

Ravindra Gupta: Natürlich stellt man sich die Frage: Ist es gefährlich, Patienten mit Plasma zu behandeln, wenn sie bereits sehr viele Viren im Körper haben? Dass das so ist, haben wir erst in den letzten Monaten erkannt. In unserer „Nature“-Studie raten wir daher vom Einsatz von Plasma ab – es sei denn, man kann die Patienten isolieren und die Sicherheit gewährleisten. Dafür braucht es Methoden wie PCR und genetische Sequenzierung.

Könnten sich solche Evolutionssprünge auch im Körper von ganz normalen Patienten ereignen?

Ravindra Gupta: Es gibt zum Beispiel eine Fallstudie aus den USA, da war ein Patient völlig ohne Symptome und hatte auch keine nennenswerten Einschränkungen des Immunsystems – trotzdem war dieser Fall eines der ersten Beispiele für die Weiterentwicklung des Coronavirus. Um ihre Frage zu beantworten: Ja, ich denke, dass diese Dinge auch in normalen Patienten passieren können.

Womit es eigentlich kaum Möglichkeiten gibt, das Virus an der Evolution zu hindern.

Ravindra Gupta: Potenziell ja. Der einzige Weg, um die Sache zu kontrollieren, ist es die Zahl der Infektionen möglichst niedrig zu halten. Dann reduziert sich zumindest die Wahrscheinlichkeit.

Ein Vorausblick: Wie wird sich das Virus im nächsten halben Jahr verhalten?

Ravindra Gupta: Ich denke, im Sommer haben wir in der nördlichen Hemisphäre recht gute Chancen, dass sich die Lage beruhigt. Aber für den Winter befürchte ich, dass neue Varianten auftauchen werden – vor allem solche, die sich speziell in halb-immunisierten Teilen der Bevölkerung ausbreiten. Es sei denn, wir haben neue Impfungen zur Verfügung. Wenn die Welt durchgeimpft und die Übertragungsrate gering ist, dann werden auch diese Varianten keine großen Probleme bereiten.

Theoretisch gäbe es auch die Möglichkeit, dass das Virus ansteckender und gleichzeitig immer harmloser wird. Könnte der Evolutionspfad dorthin führen?

Ravindra Gupta: Das ist eine komplexe Angelegenheit mit vielen Unbekannten. Ich fürchte, es ist zu früh, um solche Szenarien zu diskutieren.