Eine Museumsbesucherin mit FFP2-Maske aufgenommen am Donnerstag, 11. Februar 2021, in der Albertina in Wien
APA/HERBERT NEUBAUER
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Pandemie

Lockdown: Wenig dazugelernt?

Ein Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie verteilt sich die Last der Gegenmaßnahmen noch immer auf die gesamte Bevölkerung. Das liegt auch an Versäumnissen von Politik und Behörden. Was man immer noch nicht weiß – und was zu tun wäre.

Ein paar Fortschritte gibt es. Die Kindergärten bleiben unangetastet, die Schulen haben seit Februar dank großflächig verteilter Coronavirus-Tests offen, ebenso die Museen – und auf die Idee, die Bundesgärten zu schließen, käme heute wohl auch niemand mehr.

Ansonsten sind die Unterschiede zum Frühjahr nicht sonderlich groß. Die Strategien, mit denen die Pandemie eingedämmt werden soll, sind weiterhin unspezifisch. Oder, wie es der Wissenschaftsblogger Tomas Pueyo im März in einem einflussreichen Artikel („The Hammer and the Dance“) ausgedrückt hat: Wir agieren immer noch mit dem Hammer. Tanz? Nicht hierzulande.

Lücken im Contact-Tracing

Zugegeben: Ohne gröbere Einschnitte kam kaum ein Land durch die Pandemie. Gleichwohl hätte es nach einem Jahr intensiver Forschung die Möglichkeit gegeben, in Österreich die Infrastruktur anzupassen. Ein wichtiger wissenschaftlicher Fortschritt der letzten zwölf Monate war etwa die Einsicht, dass man das klassische Contact-Tracing durch eine Rückverfolgung von Infektionsketten über eine Woche hinweg ergänzen sollte.

„Backward Contact Tracing“ heißt diese Methode, die etwa in Japan und anderen ostasiatischen Ländern erfolgreich eingesetzt wird. „In Österreich wird das weitgehend ignoriert. Wir verfolgen nur 48 Stunden zurück, da wird man natürlich kaum etwas finden“, sagt der Systemforscher Peter Klimek vom Complexity Science Hub an der MedUni Wien.

Unfreiheit, zwei Versionen

So eine Nachverfolgung basiert auf der Erfassung von Bewegungs- und Kontaktdaten. Mit der „Stopp Corona“-App hätte das im Prinzip klappen können, doch diese Initiative verlief im Sand. Wohl auch deswegen, weil sich niemand gerne behördlich überwachen lässt. Eine nachvollziehbare Haltung liberaler Gesellschaften. Nur: Werden wir als Konsumenten nicht ohnehin bereits in viel größerem Ausmaß überwacht?

Das von Amazon, Facebook und anderen Onlinegiganten ausgespannte Netz für individualisierte Werbung unterwandert die Anonymität mit jedem Mausklick. Wohlgemerkt, ohne dass sich das durch Deinstallation einer App unterbinden ließe, wie im Fall von „Stopp Corona“.

Und: Wenn man sich dafür entscheidet, als Gesellschaft etwas gegen die Pandemie zu unternehmen, geht das notgedrungen mit einer Einschränkung von Freiheit einher. Das mag unangenehm und diskutabel sein, „aber wir sollten nicht so tun, als wäre die Alternative keine Zumutung“, sagt Klimek. „Die Vermeidung von Kontakten ist meiner Ansicht nach ein deutlich tiefer gehender Einschnitt in die Persönlichkeitsrechte.“

Dass auch in der bestehenden Infrastruktur noch Luft nach oben vorhanden wäre, zeigt sich Klimek zufolge an der Reaktion auf das Virus B.1.351, auch bekannt als Südafrika-Variante. „In Tirol wurde das Contact-Tracing extrem verschärft, da frage ich mich: Warum braucht es eine neue Virusvariante, dass man auf diese Idee kommt? Wenn es noch Möglichkeiten gibt, warum nützt man die nicht?“

Wo passieren Ansteckungen?

Theater, Kinos und Lokale sind zu, das Sozialleben ist weitgehend erlahmt, der ökonomische Schaden unabsehbar. Auf dem im Frühjahr eingeschlagenen Weg befindet sich das Land heute noch – obwohl es Möglichkeiten zu einem Richtungswechsel gegeben hätte. Eine solche böte etwa die Antwort auf die Frage: Wo in Österreich passieren die meisten Ansteckungen?

Wie das geht, zeigen Norwegen und Finnland. Dort gibt es eine starke Tradition der Registerforschung, dort werden längst Infektions- mit Sozialversicherungsdaten verknüpft, um berufliche Risikobereiche zu identifizieren und im Gegenzug den Rest der Gesellschaft zu entlasten. Die Forderung, das auch in Österreich zu tun, wurde vonseiten der Wissenschaft bereits im Frühjahr erhoben. Mehrfach.

„Wenn wir von Anfang an, bei jedem positiv getesteten Fall, ein Basisdatenset erhoben und mit Sozialversicherungsdaten verknüpft hätten, dann hätten wir rasch ein tolles Cockpit und ein viel besseres Verständnis des Geschehens gehabt. Hättiwari, haben wir aber nicht“, sagt Martin Sprenger, Public-Health-Experte an der MedUni Graz. Verantwortlich für so einen Schritt wäre die AGES, die dem Gesundheitsministerium zugeordnete Agentur für Ernährungssicherheit.

Kollateralschäden

Forscher um Dimitri Christakis vom Seattle Children’s Research Institute versuchten im November herauszufinden, wie sich Schulschließungen im letzten Jahr auf die Lebenserwartung der Schüler ausgewirkt haben. Resultat: In den USA gingen der jungen Generation 13,8 Millionen Lebensjahre verloren. Das Ergebnis mag wegen der langen Projektion mit einigen Unsicherheiten behaftet sein, sicher ist jedenfalls: Es gibt einen stabilen Zusammenhang zwischen Bildung und Lebenserwartung, mit dem Schließen von Schulen nehmen Gesellschaften eine Hypothek auf, die von der nächsten Generation bezahlt werden muss.

So gesehen ist es nicht nur epidemiologisch sinnvoll, dass man nun Kinder und Jugendliche an Österreichs Schulen durchtestet, um zumindest einen halbwegs normalen Betrieb zu garantieren. Wünschenswert wäre freilich, ähnlich systematische Tests auch bei Erwachsenen durchzuführen. Das ist bis jetzt nicht passiert.

Ein paar Initiativen in diese Richtung sind immerhin in Planung. Das Programm „Alles gurgelt“ etwa wurde speziell für Betriebe entwickelt und soll MitarbeiterInnen des Gesundheits- und Sozialbereichs samt Familienangehörigen zweimal wöchentlich per PCR testen. Nach der Pilotphase ist eine Aufstockung geplant, die Initiative ist derzeit auf Wien beschränkt.

Daten: Den Nebel lichten

Von organisatorischen Hürden im Verantwortungsbereich der Politik abgesehen steht auch die Wissenschaft vor einem Problem. Um die Bevölkerung im Alltag zu entlasten, müsste man wissen, welche Vorbeugemaßnahmen besonders wirksam sind und welche weniger. Studien dazu gab es zuhauf, doch die Modelle sind stark von den Randbedingungen abhängig. Es kommt nicht nur darauf an, wann eine Maßnahme gesetzt wird, sondern auch, in welcher Kombination sie mit anderen Maßnahmen gesetzt wird. Und nicht zuletzt hängt der Erfolg auch vom Verhalten der Bevölkerung ab.

Berechnen lässt sich das alles – nur erhalten die Wissenschaftler dabei so große Schwankungsbreiten, dass sich daraus kaum Anweisungen für den Alltag ableiten lassen. Bessern würde sich die Ausgangslage allenfalls durch Arbeit an der Evidenz, also durch Kontaktverfolgung und eine breit angelegte Teststrategie.