Älterer Mann liegt im Bett
Halfpoint – stock.adobe.com
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Pandemie

Arbeit an der Schadensbilanz

Nach einem Jahr Pandemie gelangen die Kollateralschäden der Lockdown-Maßnahmen zunehmend in den Fokus der Wissenschaft. Die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit sind beträchtlich, ein britischer Krebsforscher vermutet gar: Der Schaden war größer als der Nutzen.

Statistik, so scheint es, ist dieser Tage ein populäres Fach: Fallzahlen, Dunkelziffern, Inzidenzen – das alles sind Begriffe, die man in der Straßenbahn oder im Supermarkt hören kann, in ganz normalen Gesprächen von ganz normalen Bürgerinnen und Bürgern.

Möglicherweise wird das auch bald so sein mit einem Begriff, der momentan in der Fachliteratur Konjunktur erlebt: Verlust nach Lebensjahren, „years of life lost“, heißt ein Konzept, das Fachleute für erste Bilanzierungen der Pandemie verwenden. Die Grundidee: Anstatt Todesfälle bloß aufzusummieren, sollte man auch das Alter von Covid-19-Patienten berücksichtigen. Denn wenn junge Menschen an der Krankheit versterben, haben sie naturgemäß mehr Lebensjahre zu verlieren als alte.

Forscher der Universität Pompeu Fabra in Barcelona haben die Covid-19-Todesfälle jüngst auf diese Weise umgerechnet und kommen zu dem Schluss: Die Krankheit hat bis Jänner 2021 weltweit 20,5 Millionen Lebensjahre gekostet, also zwei bis neun Mal so viel wie die jährliche Grippewelle.

Die Kur schlimmer als die Krankheit?

Man kann die Sache auch andersrum betrachten: Wie viele Lebensjahre haben die negativen Effekte der Lockdown-Maßnahmen gekostet? Diese Frage hat sich nun der britische Onkologe Karol Sikora gestellt. Durch versäumte Krebsvorsorge und unzureichende Krebsbehandlungen, schreibt Sikora im „European Journal of Clinical Oncology“, gingen der britischen Bevölkerung 26.000 Lebensjahre pro Monat Lockdown verloren, was mehr sein könnte als durch Covid-19-Schutzmaßnahmen gewonnen wurde. Das hieße im Klartext: Man wäre in Summe ohne Lockdown sogar besser gefahren.

„Das Durchschnittsalter der verstorbenen Covid-19-Patienten liegt in unserem Land bei 82,5 Jahren“, sagt Sikora gegenüber dem ORF. „Jeder Tod ist ein schrecklicher Verlust, ich möchte nicht herzlos klingen – in diesem Alter hat man an Lebenszeit nicht mehr viel zu gewinnen, aber bei jungen Krebspatienten hat man viel zu verlieren. Und genau das sehen wir an unseren Daten.“

„Nur Schätzungen“

Das Ergebnis ist allerdings mit Vorsicht zu betrachten, sagt Alexander Rommel vom Roland-Koch-Institut, Autor einer aktuellen Covid-Lebensjahr-Bilanz der deutschen Bevölkerung. „Dass es zeitweise zu Verzögerungen in der Diagnose mancher Erkrankungen gekommen ist und dass solche Verzögerungen z.B. bei Krebserkrankungen die Überlebenswahrscheinlichkeiten beeinflussen, ist bekannt. Generell würde ich aber denken, dass die Berechnungen noch auf vielen Annahmen beruhen.“

Ähnlich sieht das Volker Strenger von der MedUni Graz: „Ich finde es interessant, solche Vergleiche anzustellen. Das Problem ist nur: Um solche Berechnungen durchführen zu können, benötigt man Zahlen – und da handelt es sich natürlich immer nur um Schätzungen.“

Auffällig an Sikoras Arbeit ist etwa, dass er den Effekt von Schutzmaßnahmen (das sind in seiner Arbeit rund 160.000 Lebensjahre) relativ niedrig ansetzt. Außerdem wären Patienten im Fall einer unkontrollierten Pandemie womöglich auch nicht ins Krankenhaus oder zum Arzt gegangen – womit es erst recht zu Kollateralschäden in der Krebsmedizin gekommen wäre.

Gesundheitsfolgen im Fokus

Ob Sikoras Rechnung so stimmt, ist also ungewiss. Feststellen lässt sich jedenfalls, dass die negativen Effekte der Lockdown-Maßnahmen nun stärker in den Blickpunkt der Wissenschaft geraten. Im Fachblatt „The Lancet“ war etwa kürzlich eine Zusammenschau zum Thema Herzgesundheit nachzulesen, demnach wurden in Europa und den USA deutlich weniger Herzinfarkte und andere akute Kreislauferkrankungen diagnostiziert.

Ein Resultat, dass sich ebenso in verlorene Lebensjahre umrechnen ließe wie die psychosozialen Folgen des Lockdowns. Analysen von Google-Suchanfragen weisen auf eine Zunahme von Einsamkeit und Sorge hin, eine Untersuchung auf Basis von Schweizer Daten kommt zu dem Schluss: Depressionen, soziale Isolation, Alkoholmissbrauch und andere mit den Restriktionen verbundene Nebeneffekte schlagen sich in der Gesundheitsbilanz messbar nieder und dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Und nicht zuletzt sind da noch die Faktoren Bewegung, Ernährung bzw. „Corona-Speck“, die sich in den letzten zwölf Monaten nachweislich zum Schlechteren entwickelt haben. Auch in Österreich.

Vier Risikofaktoren für schwere Verläufe

Ob und wie Gesellschaften im Krisenmodus krank werden, lässt sich auch mit Rückgriff auf frühere Erfahrungen abschätzen, etwa durch Daten aus der Zeit der globalen Finanzkrise. Eine in den USA durchgeführte Studie stellte in den Jahren 2008 bis 2010 einen Anstieg beim Blutdruck und den Blutzuckerwerten fest, ähnlich das Ergebnis einer Untersuchung aus Brasilien, wo ein Zusammenhang zwischen Rezession und Sterblichkeit in der Gesamtbevölkerung nachgewiesen wurde.

Der Konnex zu Covid-19? Der könnte laut Forschern der Tufts University näher sein, als man das gerne hätte: Ihrer Analyse zufolge hängen zwei Drittel aller schweren Krankheitsverläufe mit vier Risikofaktoren zusammen, nämlich mit Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes und Herzinsuffizienz. Faktoren also, die sich unter den Bedingungen des Lockdowns wohl nicht verbessert haben.

Volker Strenger von der MedUni Graz hat zusammen mit Kollegen bereits letztes Frühjahr in einer Studie zur Kindergesundheit Österreichs auf die Konsequenzen der gesellschaftlichen Vollbremsung hingewiesen. Diesen Standpunkt vertritt er ein knappes Jahr später immer noch: „Ich bin nicht der Ansicht, dass alle Maßnahmen in der Pandemie schlecht waren, das ist mir wichtig zu betonen. Aber wir müssen auch die anderen Gesundheitsfolgen berücksichtigen. Ich fürchte, wir haben sie unterschätzt.“