CeMM-Forscher Andreas Bergthaler im Labor
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Mutationsjäger arbeiten an Gesamtbild

Rund 60 Prozent der Covid-19-Neuinfektionen gehen laut AGES-Daten schon auf die neuen Varianten des Coronavirus zurück. Woher weiß man das – und wie entstehen solche Statistiken? Ein Lokalaugenschein bei Österreichs Mutationsforschern.

Die zuletzt raschen Ausbreitung ansteckenderer Virus-Varianten in Österreich macht eine verlässliche Einschätzung der Pandemiesituation schwierig. In einem Verbund um die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) analysieren heimische Spitzeninstitute im Life Science-Bereich das Viren-Erbgut aus positiven Proben. So wollen die Forscher verhindern, dass noch besser angepasste Viren übersehen werden.

„Wildtyp“ auf dem Rückzug

Beteiligt sind das Team um Andreas Bergthaler vom Forschungsinstitut für Molekulare Medizin (CeMM) und eine Gruppe um Ulrich Elling vom Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA), beides Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften (ÖAW), und Luisa Cochella vom Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP). Seit dem Jahreswechsel haben die Wissenschaftler die Anzahl der so auf die britische (B.1.1.7) oder südafrikanische (B.1.135) SARS-CoV-2-Variante getesteten Genome extrem erhöht.

Dabei zeigt sich der Durchmarsch von B.1.1.7 eindrücklich: In bis zu 2.500 Proben, in denen die Teams um Cochella und Elling am Ende der vergangenen Woche das in 2.000 Basen im Virusgenom codierte Spike-Protein des Erregers mittels einer von ihnen entwickelten Methode aufgeschlüsselt haben, fand sich der „Wildtyp“ des Virus nur noch 27 Mal, wie Elling erklärte. Dahingegen wiesen in den für Österreich nicht repräsentativen Stichproben bereits um die 80 Prozent des Erbguts der S-Proteine jene Mutationen auf, die der britischen Variante entsprechen.

Schnellere Erbgutanalyse

Zum Vergleich: Anfang Jänner machte die Normvariante noch rund 50 Prozent der analysierten Fälle aus. Dazu kamen vor allem „relativ milde Mutationen in den Positionen ‚S477N‘ oder ‚N439K‘, die noch nicht allzu besorgniserregend waren“, betonte Elling. Nun sehe man, wie sich die Südafrika-Variante in Tirol weiterhin, allerdings auf relativ konstantem Niveau halte und sich B.1.1.7 vor allem im Osten des Landes zur Dominanz aufschwingt, indem sie auch die anderen Varianten zusehends verdrängt. Da die Impfstoffeffizienz bei B.1.135 laut Elling anscheinend „deutlich schlechter“ ist, sollte vor allem deren Verbreitung weiter vehement eingedämmt werden.

Luisa Cochella und Ullrich Elling vom IMBA
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Luisa Cochella (IMP, rechts) und Ullrich Elling (IMBA)

Die „SARSeq“-Methode erlaubt es den Wissenschaftlern am IMBA und IMP an die AGES rückzumelden, welche der Varianten sich zeigen. Immerhin rund zehn bis 15 Prozent aller positiven Proben in Österreich werden auf diese Weise mittlerweile stichprobenartig überprüft. Schon in der ersten Woche konnte man so mehr Proben zuordnen als das im gesamten Jahr davor der Fall war.

4.000 komplett sequenzierte Genome

Dass es überhaupt schon derartige Daten gab, ist der Initiative eines Teams um Bergthaler und Christoph Bock am CeMM zu verdanken, die seit Anbeginn der Pandemie – Mitte März 2020 – Virus-Erbgut mittels Ganzgenomsequenzierung analysieren. Nach Weihnachten sei „nahezu über Nacht“ in der Politik angekommen, dass man Varianten auch unterscheiden können sollte. Hier hat die Aufmerksamkeit, die neue Varianten auf sich ziehen, dazu geführt, dass man mittlerweile rund 400 Proben mit der rund sieben Werktage in Anspruch nehmenden Methode untersuchen kann – eine Verzehnfachung gegenüber der Zeit davor.

Insgesamt kommt man bisher in Österreich auf um die 4.000 komplett sequenzierte Genome, so Bergthaler. Warum es nun seit wenigen Monaten vermehrt Varianten gibt, die eine große Zahl an Mutationen in sich vereinen, sei „wissenschaftlich sehr spannend und immer noch ungeklärt“.

Aktuell baue man das Team weiter aus, um neben der reinen Zuordnung von Proben zu Varianten auch wieder verstärkt tiefer im Erbgut nach Informationen zu suchen. „Es gibt immer wieder interessante Fälle, die im Spike-Protein eine überraschende Kombination an Mutationen zeigen. Die schicken wir dann zu Andreas Bergthaler weiter“, so Elling. Diese kompletten Analysen, erlauben es dann u.a. auch, Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Mutationsmustern nachzuvollziehen.

Suche nach weiteren Mutationen

Entscheidend wird in Zukunft sein, ob in den Mutationsmix der nun dominanten britischen Variante noch weitere Veränderungen aufgenommen werden, die die Übertragbarkeit von SARS-CoV-2 weiter erhöhen. Einige Mutationen würden nahelegen, dass sie auch die Infektiösität erhöhen oder den Erreger besser vor dem Zugriff des Immunsystems schützen. So sind etwa die in B.1.1.7 und B.1.135 vorhandene N501Y-Mutation sowie die im Südafrika-Typ präsente E484K-Mutation schon vielfach unabhängig voneinander entstanden, betonten Bergthaler, Elling und Cochella. Ähnliches lassen auch andere Veränderungen vermuten. Elling: „Deshalb müssen wir dem entgegentreten.“

“Das Bild wird bunter“

Nach dem „Hype“ um die britische Variante und Co werde es noch sehr wichtig werden, die gesamte Veränderungsdynamik zu erkennen, konstatierte auch Bergthaler. Das betreffe vor allem Fragen der Anpassung der Impfstoffe. Auch in Verbindung mit Sequenzierungen von Abwasserproben aus Kläranlagen im Rahmen des bundesweiten Forschungsprojektes „Coron-A“, die Rückschlüsse auf die Variantenverteilung zulassen, will man im gesamten Forschungsverbund möglichst bald einen umfassenden Überblick geben können.

Insgesamt sehe man, „dass das Bild bunter wird“, so der CeMM-Wissenschafter. Neben den britischen, südafrikanischen und ersten Nachweisen der „brasilianischen Variante“ (P.2), sehe man etwa auch die „tschechische Variante“ (B.1.258), die bekannte Mutationen aufweist, aber auch die Veränderung an Position „N439K“ des S-Proteins hat, sowie eine Variation von B.1.1.7. Weltweit zeige sich, dass verschiedene neue Varianten das Zeug dazu haben, sich in wenigen Wochen regional durchzusetzen.

„Aufwärmübung“ für Fluchtmutationen

Dass jetzt in Österreich viel darangesetzt wird, ein Monitoring-System zu etablieren, könne man als „Aufwärmübung“ für den Fall sehen, „wenn zum Beispiel Varianten auftreten, die komplett der Immunantwort entkommen können“, sagte Bergthaler. Taucht etwas auf, das danach aussieht, brauche es regional Möglichkeiten zur schnellen Reaktion. Hier könnte aus den Vorkommnissen der vergangenen Wochen in Tirol oder im Bezirk Hermagor gelernt werden. Es gehe also darum, „ohne Vorauswahl einen Querschnitt der Materie der zirkulierenden Viren, regelmäßig, wöchentlich in Österreich sequenzieren“.

Trotz all der Anstrengungen rund um das Monitoring als „Vorwarnsystem“, bleibe immer ein gewisser Zeitverzug beim Erkennen der Veränderungen. Die beste Chance, die Weiterentwicklung des Erregers insgesamt hintanzuhalten sei daher, die Gesamtzahlen „massiv zu senken. Das würde erstens den Raum für die Evolution reduzieren – denn wo kein Virus ist, das sich repliziert, kann auch keines mutieren“, so Elling: „Zweitens würde das Cluster-Tracing wieder möglich.“ Passiert das nicht, könnten neue Varianten zu einer „Verschärfung der Situation“ beitragen. „Aus dieser Spirale müssen wir dringend endlich ausbrechen“, betonte Elling.