Ein Mann im Schutzanzug hält ein Dosimeter in der Hand – im Hintergrund das AKW Fukushima
AFP – YOSHIKAZU TSUNO
AFP – YOSHIKAZU TSUNO
Fukushima

Der Unfall ist noch nicht vorbei

Die Atomkatastrophe von Fukushima ist auch zehn Jahre danach noch lange nicht vorbei. Viele Fragen sind ungelöst und umstritten, etwa ob radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer geleitet werden soll. Sicher ist: In der japanischen Öffentlichkeit ist Atomenergie weiter unten durch.

Vor dem Unfall waren 87 Prozent der Japanerinnen und Japaner der Meinung, dass „Atomenergie notwendig ist. Heute sind es nur noch zwölf Prozent“, sagt der Kerntechniker Tatsujiro Suzuki von der Universität Nagasaki. „60 Prozent meinen heute, dass man Atomenergie auslaufen lassen oder sofort beenden sollte.“

„Kernenergie für Klimaschutz“

Zum Teil spiegelt sich die öffentliche Meinung in der Energieversorgung des Landes wider. Vor Fukushima bezog Japan über ein Viertel seiner Energie aus Atomkraft, heute sind es nur noch sechs Prozent. Von den damals 54 aktiven Reaktoren wurden nur neun wieder in Betrieb genommen. Aber: Die japanische Regierung hält weiter an der Atomkraft fest, um die Grundlast abzudecken. Auch mit Klimaschutz wird argumentiert. Um das Ziel der Kohlenstoffneutralität bis 2050 zu erreichen, setzt das japanische Wirtschaftministerium auch auf Atomkraft – und bezeichnet sie als Teil einer „grünen Wachstumsstrategie“. Seit Fukushima ist die Abhängigkeit von Kohle gestiegen, deshalb soll Atomenergie wieder forciert werden – und wieder auf rund 20 Prozent ansteigen.

Die Katastrophe vor zehn Jahren

Ein Blick zurück: Am 11. März, knapp vor sieben Uhr MEZ, ereignet sich ein Seebeben vor der Küste der japanischen Region Tōhoku. Mit dem anschließenden Tsunami sterben offiziell rund 16.000 Menschen, tausende weitere bleiben vermisst. In mehreren Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima fällt die Kühlung aus, in drei von ihnen kommt es zu Kernschmelzen, die japanische Regierung ruft den atomaren Notfall aus. Große Mengen an radioaktivem Material werden freigesetzt, glücklicherweise treibt der Wind den Großteil der radioaktiven Wolken aufs offene Meer. Die Reaktorkatastrophe wird auf die höchste Stufe 7 der internationalen Störfälle-Bewertungsskala Ines gestuft – so wie 1986 beim Unglück im ukrainischen AKW Tschernobyl.

Einige der Behälter mit radioaktivem Wasser
AFP – PHILIP FONG
Einige der Tanks mit radioaktivem Wasser

In den zehn Jahren danach ist viel an Aufräumarbeit geschehen, tausende Menschen sind täglich bis heute damit beschäftigt. „Aber der Unfall ist noch nicht vorbei“, sagte Tatsujiro Suzuki vor Kurzem bei einer Online-Veranstaltung der Diplomatischen Akademie in Wien. So hat der AKW-Betreiber Tokio Electric Power Company Millionen Tonnen radioaktiv verseuchtes Wasser auf dem Gelände in Tanks gespeichert. Bis nächstes Jahr sind die Lagerkapazitäten aber voraussichtlich erschöpft.

Daher hat ein Expertengremium der Regierung vorgeschlagen, das Wasser nach einem umfangreichen Filterungsprozess ins Meer zu leiten. Dabei bleibe das in geringen Dosen unschädliche Tritium im Wasser übrig, die Wasserableitung sei auch bei anderen Kraftwerken üblich, so die Argumentation – die Bauern und Fischer der Umgebung halten dennoch sehr wenig von dem Plan. „Nur 13 Prozent der Japaner und Japanerinnen befürworten ihn“, ergänzt Tatsujiro Suzuki.

Viele ungelöste Fragen

So wie die Frage des Wassers ungeklärt ist, sei es auch die der verunreinigten Böden und anderer Materialien, die sich seit Beginn der Dekontaminierung in und um Fukushima angehäuft haben, so der Kerntechniker. Dazu komme, dass die Gefahr neuerlicher Beben besteht. Erst am 13. Februar dieses Jahres wurde die Region von einem Seebeben der Stärke 7,3 erschüttert. Danach sank der Kühlwasserspiegel in mehreren Reaktoren, ausgetreten sei aber keines, versicherte der Betreiber Tepco.

Abgesehen von diesen Fukushima-„Spezialitäten“ hat Japan das Problem, das auch alle andere Atomstaaten haben: Für die Zwischen- und Endlagerung verbrauchter Kernbrennstoffe gibt es auch in Japan keine nachhaltigen Lösungen – um die Bewerbung entsprechender Stätten herrscht nicht unbedingt ein Gerangel.

Enorme Kosten

Die Atomkatastrophe ist auch wirtschaftlich nicht vorbei. Die Kosten der Aufräumarbeiten sind enorm, laut japanischem Wirtschaftsministerium betragen sie 170 Milliarden Euro, laut einer Schätzung des Japan Center for Economic Research, das auch die Endlagerungskosten berücksichtigt, zwischen 270 und 620 Milliarden Euro.

Über 100.000 Menschen mussten vor zehn Jahren evakuiert werden, ein Drittel konnte bis heute nicht zurückkehren. In den besonders verstrahlten Zonen rund um das AKW sind es zum Teil nur acht Prozent, wie eine Grafik des japanischen Fernsehens zeigt.

Aufgelassenes Geschäft in einer Roten Zone der Präfektur Fukushima, aufgenommen Ende Februar 2021
AFP – PHILIP FONG
Aufgelassenes Geschäft in einer Roten Zone der Präfektur Fukushima, aufgenommen Ende Februar 2021

“Vertrauen der Bevölkerung wiedergewinnen“

Aus Sicht von Suzuki bestehen zehn Jahre nach dem Unfall drei Hauptaufgaben: das Kraftwerk endgültig stilllegen und die Region Fukushima wiederaufbauen, die Lagerung des radioaktiven Abfalls verbessern und das Vertrauen der Öffentlichkeit wiedergewinnen. Die ersten beiden Punkte sind vorwiegend technischer Natur und werden noch Jahrzehnte brauchen. Vertrauen sei aber ebenso wichtig, und dazu müsse die japanische Regierung ihre „Transparenz erhöhen und alle Informationen offenlegen“, so Suzuki vor Kurzem in einem Artikel. „Die Bevölkerung soll in die Entscheidungsprozesse in Sachen Atomkraft eingebunden und eine unabhängige Behörde zur Technologieeinschätzung eingerichtet werden.“