Putzfrau  mit Utensilien in einem Hausgang
dpa/Oliver Berg
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Meritokratie

Die Leistungsgesellschaft ist ein Mythos

Mit der CoV-Pandemie wurden bestimmte Berufe als systemrelevant definiert. Dazu zählen vor allem schlecht bezahlte „Frauenberufe“, die sowohl körperlich als auch psychisch belastend sind. Sie stehen zwar im Fokus, die Anerkennung bleibt aber meist symbolisch. Das zeigt laut Soziologen, dass sich Leistung in unserer Gesellschaft nicht immer und für alle lohnt.

Wer sich anstrengt und Leistung erbringt, der wird anerkannt und schafft es nach oben. So lautet das Versprechen unserer Leistungsgesellschaft. Was als Leistung definiert wird, bleibt jedoch diffus. Warum „leistet“ eine Pflegekraft, die Verantwortung für das Leben anderer übernimmt, weniger als jemand, der als Key Account Manager Verantwortung für ein Unternehmen trägt? Oder leistet die Pflegekraft sogar mehr, nur werden diese Leistungen nicht monetär anerkannt?

Meritokratische Grundnorm

Das Leistungsprinzip sei eine Grundnorm der modernen, meritokratischen Gesellschaft, erklärt Johanna Hofbauer, Soziologieprofessorin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Es reiche zurück bis zur Aufklärung als sich das Bürgertum gegen die unproduktive Aristokratie gewandt und eingefordert hat, dass gesellschaftlicher Status nicht mehr vererbt, sondern selbst erarbeitet werden soll. Im industriellen Kapitalismus hat sich das Leistungsprinzip dann verfestigt. Die Arbeitsleistung wurde zum zentralen Gradmesser und bestimmt seither über Einkommen und Status.

Seit den 1980er Jahren werde das Leistungsprinzip wieder stärker betont, sagt die Soziologin. Der Markt gilt seither als Ort der Verwirklichung von Leistungsgerechtigkeit, indem die Tüchtigen belohnt werden und den weniger Tüchtigen diese Belohnung vorenthalten wird. Ausgeblendet bleibe dabei, dass das Leistungsprinzip ein umstrittenes Zurechnungsprinzip sei. „Das erkennt man an der ungleichen Entlohnung von Arbeit.“, sagt Hofbauer. „An der Tatsache, dass die gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit, Kinderbetreuung, Altenpflege etc. schlechter entlohnt wird als beispielsweise ein Job in der Rüstungsindustrie.“

Systemrelevanz oft schlecht bezahlt

Pflegekräfte, Elementarpädagoginnen und -pädagogen, Reinigungspersonal oder Supermarkt-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Viele in der Coronavirus-Krise als systemrelevant definierte Berufe werden schlecht bezahlt. Das zeigt eine Sonderauswertung des österreichischen Arbeitsklima Index des SORA-Instituts.

Auffallend ist: Von den elf als systemrelevant definierten Berufen verdienen jene fünf, in denen der Frauenanteil am höchsten ist, weniger als der Durchschnittslohn in Österreich. Wenig Lohn für ein hohes Maß an Leistung, denn systemrelevante Berufe gehen meist mit körperlichen und psychischen Belastungen einher. „Körperliche Belastungen sind bei den Berufsfahrern, bei den Pflegekräften und in der öffentlichen Sicherheit weit verbreitet, während die psychosozialen Belastungen in den sozialen Berufen hoch sind.“, sagt Studienautorin Martina Zandonella.

Eine Pflegehausbewohnerin und eine Pflegehelferin gehen mit einem Rollator einen Gang entlang.
APA/dpa/Angelika Warmuth

Würde das Credo, Leistung muss sich lohnen, zutreffen, dann müssten Berufe, die mit einer ähnlich hohen Belastung einhergehen, auch ähnlich bezahlt werden. Dem widersprechen die bisherigen Daten der Wissenschaft, sagt Studienautor Daniel Schönherr und nennt als Beispiel Beschäftigte in der Pflege, die unter hohen körperlichen und emotionalen Belastungen arbeiten und teilweise um bis zu 13 Euro weniger pro Stunde verdienen als andere Berufe mit denselben Belastungen. „Es gibt eindeutige und auch abgesicherte statistische Belege für eine ökonomische und auch eine gesellschaftliche Abwertung von diesen sogenannten Frauenberufen, die wir im letzten Jahr als systemrelevant gefeiert haben.“

Mythos Leistungsgerechtigkeit

In der Wissenschaft sei von den drei Fiktionen des Leistungsprinzips die Rede, erklärt die Soziologin Johanna Hofbauer. Die Fiktion der Gerechtigkeit besagt, dass Leistung individuell steuerbar und beeinflussbar ist. „Hier wird unterschlagen, dass Voraussetzungen der Herkunft, Ungleichbewertungen durch Geschlechterstereotype oder auch Macht und Besitz die Voraussetzungen dafür Leistungen zu erbringen natürlich beeinflussen und auch verfälschen.“ Die Annahme, man müsse sich nur anstrengen, um Erfolg zu haben, stimme so nicht, meint Johanna Hofbauer. Menschen strengen sich unter unterschiedlichen Bedingungen an und ihre Anstrengungen werden unterschiedlich honoriert, je nachdem welcher Gruppe sie angehören.

Die zweite Fiktion der Meritokratie ist die Fiktion der Messbarkeit. Leistung sei nicht objektiv fassbar. Es gebe nicht die „Normleistung“, die als standardisierte Größe für Arbeit und Anstrengung herangezogen werden kann. Vielmehr würden in die Anerkennung von Leistung Vorstellungen über die Person und die Bewertung von Arbeit einfließen. Die dritte Fiktion besteht in der Annahme man könnte Leistung individuell zuordnen. Das sei in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft nicht möglich, sagt Hofbauer. Denn Arbeit wird heute in vielen kleinen Prozesse und Zwischenschritten erbracht.

Dienst am Menschen lange unbezahlt

Dass viele „Frauenberufe“ schlecht bezahlt werden, habe auch historische Gründe, sagt die Soziologin. Tätigkeiten wie Erziehung, Reinigung oder Pflege wurden lange unentgeltlich erbracht und als Aufgabe den Frauen zugeschoben. „Der Dienst am Menschen ist dann sozusagen zu einer Herzenssache, zu einem Liebesdienst erklärt worden, für den die soziale Anerkennung völlig ausreicht. Die ökonomische Anerkennung ist da nur ein Zusatz.“ Zudem werde bei der Sorgearbeit kein verkaufbares Produkt hergestellt, sagt der Sozialwissenschaftler Daniel Schönherr. Das Ergebnis dieser Arbeit ließe sich nur schlecht beziffern. „Deshalb erscheint diese Art von Sorgearbeit oft als lästiger Kostenfaktor.“

Gesellschaftliches Ansehen beruhe auf mehreren Dimensionen, betont Martina Zandonella. Neben dem Einkommen gehe es auch um die symbolische Ebene, die Wertschätzung, die einem Beruf entgegengebracht wird. Hier würden die Umfragen des Arbeitsklima-Index zeigen, dass viele Beschäftigte im Handel, in der Reinigung und in der Pflege den Eindruck hätten, dass ihre Arbeit nicht wertgeschätzt wird. „Das war vor Corona und wir haben jetzt keine so große Studie, aber auch ein paar aktuellere Studien aus 2020, wo wir eigentlich sehen, dass sich das nicht großartig verändert hat, im Zuge dieser Diskussion über die systemrelevanten Berufe, über die Heldinnen und Helden des Alltags.“

Süßigkeiten für das Supermarktpersonal oder Danke-Poster zum zuhause Ausdrucken: Die symbolische Wertschätzung zu Beginn der Pandemie sei sehr punktuell gewesen und habe sogar die gesellschaftliche Geringschätzung dieser Berufe unterstrichen, meint Zandonella. „Dieses Klatschen vom Balkon ist ja eine Wertschätzung von oben herab, die auch schwer anzunehmen ist, denke ich.“ Auch die Diskussion über den sogenannten Corona-Tausender sei schnell wieder vom politischen Tableau verschwunden. Viele Menschen, die in statusniedrigen, systemrelevanten Berufen arbeiten, hätten das Gefühl, dass sie politisch nicht mitbestimmten können, dass ihnen also Anerkennung von politischer Seite verwehrt wird. Demokratiepolitisch ein brisanter Befund. „Denn Demokratie bedeutet ja, dass jeder von uns auch auf gleiche Art und Weise an unseren Lebensbedingungen mitgestalten kann.“