Selbstgenähte MNS-Masken als Tracht, April 2020
Markus Guschelbauer
Markus Guschelbauer
Gastbeitrag

Museen als Stätten der Gegenwartsbewältigung

Üblicherweise beschäftigen sich Geschichtsmuseen mit der Vergangenheit. Mit der Coronavirus-Pandemie begannen sie aber verstärkt auch die Gegenwart zu sammeln und auszustellen. Wie das an ihrem traditionellen Selbstverständnis rüttelt und ob sie sich als Stätten der „Gegenwartsbewältigung“ eignen, beschreibt Laura Langeder, Mitarbeiterin am Haus der Geschichte Österreich, in einem Gastbeitrag.

Der Beschluss der österreichischen Bundesregierung zum ersten Lockdown im März 2020 hat unumstritten bereits ein Jahr später historische Bedeutung. Das Haus der Geschichte Österreich (hdgö) hat, wie viele andere Museen in Österreich auch, unmittelbar begonnen, die Ereignisse anhand von Objekten und Fotos zu dokumentieren. Die außergewöhnliche Situation und der Umgang mit der „neuen Normalität“ sollte so für künftige Generationen festgehalten und bewahrt werden. Doch auch die Präsentation und Aufbereitung der Corona-Zeit in Form von Ausstellungen ließ nicht lange auf sich warten. So konnte man in Wien bereits mit der Wiedereröffnung der Kulturinstitutionen nach dem ersten Lockdown in mehreren Museen Ausstellungen und Projekte rund um die Pandemie und den damit verbundenen Ausnahmezustand besuchen.

Porträtfoto der Historikerin Laura Langeder
hdgö

Über die Autorin

Laura Langeder ist für Sammlungsentwicklung und -management am Haus der Geschichte Österreich zuständig und Kuratorin der Web-Ausstellung „Corona Sammeln – Ein Krisenjahr in Objekten". Sie studierte Cultural Heritage Studies am University College London und Geschichte an der Uni Wien.

Das Museum als autoritäre Bildungsstätte, die lineare und hegemoniale Erzählungen an ein passives Publikum weitergibt, hat schon lange ausgedient. Spätestens mit der Bewegung der „New Museology“ der späten 1980er Jahre hat sich das Konzept des Museums als Institution grundlegend verändert. Die Bedürfnisse der NutzerInnen und der Mehrwert für das Publikum rückten in den Mittelpunkt der Museumsarbeit. Das bedeutet auch eine Demokratisierung der im Museum geleisteten Forschung und Vermittlung, durch Einbeziehen einer heterogenen Öffentlichkeit.

Das Museum wurde vom gläsernen Schaukasten zum lebenden Organismus, wodurch das „Hier und Jetzt“ für den Museumsbetrieb eine zunehmend größere Rolle spielt. Für die Gegenwart relevant zu sein bedeutet für Museen, den BesucherInnen Bezüge zu ihren eigenen Lebensrealitäten anzubieten, die dazu anregen, diese zu reflektieren und zu hinterfragen. Sich dabei auf vergangene Zeiten zu beschränken und eine selbstvergewissernde Geschichte einer vermeintlich homogenen Gesellschaft zu erzählen, reicht für die Ansprüche eines zeitgemäßen Geschichtsmuseums nicht mehr aus. Das Museum ist der Ort, an dem auch aktuelle Ereignisse und Entwicklungen, Fragen und Konflikte der Gegenwart, anhand verschiedenster Materialien und Methoden beleuchtet und diskutiert werden.

Gegenwart wird rund um die Welt gesammelt

Die Strategie des „Rapid Response Collecting“ hat sich als systematische Methode des Sammlungsaufbaus 2014 durch die Arbeit des Londoner Victoria and Albert Museums in der Museumsszene etabliert. Dabei sammeln Museen aktiv Objekte im Zusammenhang mit aktuellen Ereignissen und erschaffen so eine Sammlung am Puls der Zeit. Die Musealisierung der Corona-Krise war – und ist – ein globales Phänomen. Die Methoden waren dabei je nach Strategie der Museen unterschiedlich.

Um nur einige Beispiele zu nennen: Das Smithsonian Museum in den USA und das Te Papa Museum in Neuseeland haben im Vorfeld eine kuratorische Auswahl getroffen und gezielt bestimmte Objekte aufgenommen. Das National Museum in Kenia organisierte einen Kunstwettbewerb, um die Krise sowohl für die Zukunft als auch für die Gegenwart greifbar zu machen. Die meisten Museen in Österreich, darunter auch das Haus der Geschichte Österreich, initiierten Sammlungsaufrufe, bei denen die Öffentlichkeit aktiv um Beiträge gebeten wurde, die den Menschen nach eigenem Ermessen sammlungswürdig erschienen.

Covid-19 poster in Wellington, aufgenommen am 11. Mai 2020, aus der Sammlung des Te Papa Museums
Covid-19 Poster in Wellington/Neueseeland, aufgenommen am 11. Mai 2020, aus der Sammlung des Te Papa Museum

Diese Art des Sammelns in der Gegenwart bietet viele Vorteile für ein Museum – und stellt es gleichzeitig vor einige Herausforderungen. Durch offene Sammlungsaufrufe gibt das Museum als Institution Autorität ab. Die Entscheidung über den Erinnerungswert und den Erhaltungswert wird bedingt mit der Gesellschaft geteilt, für die das Museum letztendlich existiert. Bedingt, weil in der endgültigen kuratorischen Entscheidung auch praktische Faktoren wie zum Beispiel die Doppelungen von Objekten oder der Erhaltungszustand berücksichtigt werden müssen. Die Zugänge, die dem hdgö gesendet werden, lassen sich grob anhand von drei Merkmalen beschreiben: Objekte der „neuen Normalität“, wie zum Beispiel MNS-Masken und Fotos von menschenleeren Straßen. Objekte, die in der Krise als Besonderheiten erkannt werden, wie etwa Dokumente und Objekte in Verbindung mit Testungen oder Aufrufe zu Nachbarschaftshilfen. Und auch Objekte, welche den Umgang der Menschen mit der Ausnahmesituation verdeutlichen, unter anderem Ergebnisse von kreativen Betätigungen während des Lockdowns.

Lücken der Sammlungsaufrufe schließen

Es ist auch trotz offenen Aufrufen wichtig zu berücksichtigen, dass nicht jedes Mitglied der Gesellschaft dieselben Zugänge und Möglichkeiten hat, sich an einem kollektiven Sammeln zu beteiligen. In der Sammlungsentwicklung muss daher rechtzeitig erkannt werden, welche Lücken oder problematischen Gewichtungen sich auch durch öffentliche Sammlungsaufrufe auftun. So hat das Haus der Geschichte Österreich neben dem Aufruf an die Öffentlichkeit aktiv nach Menschen und Objekten gesucht, die den Weg ins Museum womöglich nicht von selbst finden würden.

Dadurch entstand zum Beispiel ein Sammlungsschwerpunkt des Corona-Bestands im Themenfeld Armut und Wohnungslosigkeit. Auch wurde bei diversen Demonstrationen und Protestaktionen unmittelbar vor Ort gesammelt. Ein weiterer Vorteil des Sammelns im Moment ist, dass auch flüchtige oder vergängliche Quellen und üblicherweise nicht als erhaltenswert erachtete Objekte rechtzeitig im Bestand des Museums verankert werden können. Die Relevanz der Dinge muss nicht nachträglich konstruiert werden, sondern wird im Moment erkannt und entsprechend festgehalten.

Fotostrecke mit 6 Bildern

Toilettenpapier, März 2020,
Martina Brunner
Die Ikone des März 2020
Foto des Großglockners ohne Kondensstreifen, April 2020,
Günther Aigner
Foto des Großglockners ohne Kondensstreifen, April 2020
Covid-19 Plakat in Wellington, aufgenommen am 27. März 2020, aus der Sammlung des Te Papa Museums
Covid-19 Plakat in Wellington, aufgenommen am 27. März 2020
Tagebuch eines auf soziale Betreuung angewiesenen Kindes, April 2020,
Markus Guschelbauer
Tagebuch eines auf soziale Betreuung angewiesenen Kindes, April 2020
Aufsteller eines Babyelefanten mit „Stopp Corona App“, Juni 2020
Markus Guschelbauer
Aufsteller eines Babyelefanten mit „Stopp Corona App“, Juni 2020
Informationstafel des mobilen Suppenbusses der Caritas, Mai 2020
Markus Guschelbauer
Informationstafel des mobilen Suppenbusses der Caritas, Mai 2020

Analytische Distanz fehlt

Es ist unumstritten, dass ein Verständnis von und für Geschichte, sowie deren Darstellung, ein ständiger Prozess ist und Ausstellungsnarrative eine Interpretation darstellen, die sich mit Forschung, Fragestellung und Methodik weiterentwickeln. Das Historisieren der Gegenwart aber bedeutet, dass es wenig analytische Distanz zu den besprochenen Geschehnissen gibt, die jedoch für das Repertoire der klassisch historischen Methoden Voraussetzung zu sein scheint. Kritische Analysen und konkrete Thesen lassen sich nur in wenigen Fällen aufstellen. Das Versprechen historischer Ausstellungen, ein oft „tieferes“ Verständnis von Prozesses zu bieten, ist im Umgang mit noch unabgeschlossenen Zeitabschnitten nicht einzulösen.

Ansonsten stellt sich auch die Frage, ob es durch das historische Aufarbeiten der Gegenwart zu einer künstlichen Historisierung kommt, die Prozesse in ein Narrativ einbettet, das ohne ausreichende Quellenlage und belastbare Methoden konstruiert wurde. Diese fehlende Distanz macht es auch noch unmöglich zu bestimmen, welche dinglichen Quellen tatsächlich in vielen Jahren für zukünftige Generationen relevante Zeugnisse der heutigen Zeit sein werden. Durch das Deklarieren von „Ikonen der Corona-Zeit" läuft man also Gefahr eines Fetischisierens von Objekten und Narrativen.

Covid-19 graffiti, aufgenommen  am 7. April 2020 in Wellington,  aus der Sammlung des Te Papa Museums
Covid-19 Graffiti, aufgenommen am 7. April 2020 in Wellington

Interdisziplinärer Dialog mit der Gesellschaft

Die genannten Punkte machen die Notwenigkeit einer interdisziplinären Ausrichtung der Museumslandschaft deutlich. Im Arbeiten mit der Gegenwart mischen sich Methoden und Analysen der Geschichtswissenschaft, Archäologie, Kunstgeschichte, Politikgeschichte und Soziologie, um nur einige relevante Disziplinen zu nennen. Das lebendige Museum muss vielfältige Kompetenzen und Zugänge vereinen. Und das nicht nur von ExpertInnen. Offene Narrative und Fragestellungen ohne abschließende Feststellung bieten die Chance, das kulturelle Gedächtnis in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft zu formen und fordern aktiv auf, Inhalte zu hinterfragen und zu diskutieren.

Das Ausstellen von “unfertigen" Entwicklungen zwingt das Museum, Deutungshoheit über Ereignisse abzugeben, und demokratisiert so den Dialog über Objekte und Erzählungen. Am Beispiel von Protestmaterial von Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen bedeutet das den laufenden Prozess als Dialog zwischen Museum und Zivilgesellschaft zu konzipieren und die Motivationen und Legitimation aller Beteiligten zu hinterfragen. Fragen nach der Autorität des Staats und den Grenzen der persönlichen Freiheit werden anhand der zeitgemäßen Objekte zu brennenden Themen für das Hier und Jetzt.

Plakate von einem Protest gegen die Anti-Corona-Maßnahmen der Regierung, April 2020
Markus Guschelbauer
Plakate von einem Protest gegen die Anti-Corona-Maßnahmen der österreichischen Regierung, April 2020

Gerade in Krisen spielen Museen eine stabilisierende Rolle im Umgang mit unsicheren Situationen. Eine Funktion des historischen Museums, nämlich die Gegenwart durch die Linse der Vergangenheit zu sortieren, spiegelte sich auch 2020 im plötzlichen Interesse an vergangenen Pandemien wider, vor allem an der sogenannten Spanischen Grippe. Auch Ausstellungen mit offenen Narrativen können diese Funktion erfüllen, indem sie ermöglichen, über den Tellerrand der eigenen Lebensrealität hinauszublicken, die thematisierte Zeit aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, Bezüge herzustellen und etablierte Prämissen zu hinterfragen. So war es in der Web-Ausstellung des hdgö eine wichtige Entscheidung, das letzte Jahr weiter zu fassen und Themen wie das Erstarken der Black Lives Matter Bewegung in Österreich oder das Thema Umweltschutz in den Rückblick zu integrieren.

Beitrag zur Gegenwartsbewältigung

Weiters können zeitgenössische (Geschichts)ausstellungen als Medium dienen, öffentlich nicht sichtbare oder schwer fassbare Aspekte der Krise offen zu thematisieren, wie zum Beispiel den Anstieg der häuslichen Gewalt. Auch das Stichwort „Rückblick" war ein wichtiges im Konzipieren der Web-Ausstellung. Als Bundeseinrichtung war es dem hdgö ein Anliegen, nach einem Jahr gemeinsamen Sammelns mit und durch die Öffentlichkeit auch Transparenz zu schaffen und zurückzuspielen, welche Ergebnisse aus den gemeinsamen Bemühungen entstanden sind.

Das Sammeln und Ausstellen der unmittelbaren Gegenwart stellt historische Museen vor Herausforderungen, die dazu anregen, wichtige Schritte in der Demokratisierung und Weiterentwicklung eines innovativen Museumsbetriebs voranzutreiben. NutzerInnen in die Formung der Institution miteinzubeziehen ist ein Mittel, die eigene Vorgehensweise transparent und kritisierbar zu machen, Deutungshoheit abzugeben, und die unmittelbare Relevanz der beforschten Inhalte zu erhöhen. Die Ausnahmesituation der Corona-Krise zeigt die Bedeutung dieser Arbeitsweise, sowohl für das Museum als auch für die Öffentlichkeit. Das Sammeln und Erinnern des Hier und Jetzt macht das Museum zu einem bedeutungsvollen Medium in der Bewältigung der Krise, indem es seinen NutzerInnen Raum bietet, Situationen anhand von Objekten zu hinterfragen, zu diskutieren und Deutungsmuster herauszufordern.