Wasserfledermaus
APA/Wolfgang Buchhorn
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Infektionen

Welche Viren auf den Menschen überspringen könnten

Das Coronavirus ist mit großer Wahrscheinlichkeit von Fledermäusen auf den Menschen übertragen worden. Dieser Vorgang könnte sich jederzeit wiederholen: Ein Forschungsprojekt sucht nun nach den größten Gefahrenherden im Tierreich.

„Wir wissen noch viel zu wenig über Viren in Wildtieren“, sagt die US-amerikanische Epidemiologin Jonna Mazet. Das von ihr begründete Projekt „SpillOver“ soll das ändern. Es sei als Aufruf an die Fachgemeinde zu verstehen, mehr Daten zu sammeln. Letztlich, so betont Mazet, gehe es darum, vorbereitet zu sein auf den Ernstfall einer neuen Pandemie.

Die Forscherin von der University of California in Davis hat in den vergangenen Monaten die virologische Fachliteratur durchforstet und 65 Experten und Expertinnen aus 13 Ländern um ihre Einschätzung gebeten, welche Erreger auf den Menschen überspringen könnten und das Potenzial für bisher unbekannte Infektionskrankheiten hätten.

Risiko-Rangliste: Coronaviren voran

Laut der aktuellen Risikobewertung geht die größte Gefahr von Coronaviren in Fledermäusen und Nagern aus. Vor allem deswegen, weil Coronaviren die Fähigkeit haben, mehrere Tierarten zu infizieren. Diese Flexibilität in der Wahl der Wirte macht sie zu einer potenziellen Bedrohung für den Menschen. Das sei längst bekannt, sagt Mazet im Gespräch mit dem ORF. „Aber die Risiken werden ignoriert. Die Konsequenzen dieser Naivität sehen wir nun bei der aktuellen Pandemie.“

Um ihre Methode zu validieren, hat Mazet auch bereits bekannte Zoonosen (also von Tieren stammende Viruserkrankungen) in ihre Bewertung aufgenommen. Die drei gefährlichsten Erreger sind demnach das Lassavirus vor SARS-CoV-2 und dem Ebolavirus. Dass SARS-CoV-2 bloß auf Platz zwei der Risikorangliste landet, habe mit dem mangelhaften Wissen über seine tierischen Wirte zu tun, erklärt Mazet. Das ökologische Umfeld des Coronavirus sei eben noch kaum erforscht und dieser Umstand führe – noch – zu einer relativ geringen Risikobewertung. „Ich finde es eigentlich schockierend, dass SARS-CoV-2 trotz unserer Wissenslücken bereits jetzt auf Rang zwei liegt. Sie können davon ausgehen, dass sich das mit Fortlauf der Forschungen ändert. Das neue Coronavirus wird demnächst auf den ersten Platz vorrücken.“

science.ORF.at: Frau Mazet, hat Sie die Pandemie überrascht – oder hatten Sie erwartet, dass es zu so einer globalen Krise kommen würde?

Jonna Mazet: Aus dem Tierreich stammende Infektionskrankheiten beobachten wir regelmäßig, insofern war so eine Pandemie durchaus zu erwarten. Ich bin jedenfalls sehr enttäuscht, dass die Welt darauf nicht vorbereitet war, obwohl wir auf die Risiken immer wieder hingewiesen haben. Mein Schluss daraus lautet: Wissenschaftler müssen ihre Forschungsergebnisse besser kommunizieren. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Ergebnisse die Öffentlichkeit erreichen. Und natürlich auch die politischen Entscheidungsträger.

Wie oft kommt es zu einer Übertragung von tierischen Viren auf den Menschen?

Mazet: Pro Jahr registrieren wir etwa drei neue Infektionskrankheiten. Dass Viren auf den Menschen überspringen, passiert natürlich viel häufiger, aber die meisten davon verschwinden wieder, bevor es zu einer Epidemie oder Pandemie kommt. Wir können uns eigentlich glücklich schätzen, dass SARS-CoV-2 nicht noch gefährlicher ist, denn diese Erreger sind da, sie sind draußen in der Natur. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen: Im Endeffekt ignorieren wir die Gefahr und kümmern uns erst darum, wenn etwas passiert. Nehmen wir zum Beispiel Westafrika – wir wissen durch serologische Tests, dass dort bis zu zehn Prozent der Bevölkerung Antikörper gegen das Ebolavirus entwickelt haben, obwohl in diesen Regionen niemand etwas von einem Ausbruch der Krankheit weiß. Das bedeutet, dass Tier-Mensch-Übertragungen viel häufiger sind, als man bisher annahm.

In Ihrer Rangliste der gefährlichsten bereits bekannten Zoonosen rangiert das Lassa-Virus auf Rang eins, SARS-CoV-2 liegt auf dem zweiten Rang. Warum?

Mazet: Unser Forschungsprojekt soll helfen, neue und potenziell gefährliche Viren im Tierreich zu entdecken. Im Fall von SARS-CoV-2 wäre es natürlich gut gewesen, schon über den Erreger Bescheid zu wissen, bevor er auf den Menschen übersprang. Zu Ihrer Frage: Der Risikowert ergibt sich aus den Daten, die wir über die betreffenden Viren haben. Im Fall des Lassavirus wissen wir relativ gut über die Wirte im Tierreich Bescheid. Das ist beim Coronavirus nicht der Fall. Ich finde es eigentlich schockierend, dass SARS-CoV-2 trotz unserer Wissenslücken bereits jetzt auf Rang zwei liegt. Sie können davon ausgehen, dass sich das mit Fortlauf der Forschungen bald ändert. Das Coronavirus wird demnächst auf den ersten Platz vorrücken.

Welche Daten gehen in die Risikobewertung ein?

Mazet: Wir haben etwa 30 Risikofaktoren von der Virologie über die Epidemiologie bis zur Ökologie identifiziert. Die Gewichtung dieser Faktoren stammt von Expertinnen und Experten aus diesen Fachgebieten. Eine mögliche Übertragung auf den Menschen ist natürlich ein wichtiger Faktor. Der Risikowert erhöht sich zum Beispiel, wenn ein Virus verschiedene Wirte befallen kann – sagen wir zum Beispiel: Fledermäuse und Nerze. Der Wert erhöht sich auch, wenn wir es in Nutztieren finden, oder allgemein gesprochen: wenn das Virus zahlreiche Kontaktzonen zum Menschen hat.

Wie viele von tierischen Viren ausgelöste Infektionskrankheiten sind derzeit bekannt?

Mazet: Etwa hundert. Das Problem ist, dass humane Viren und Viren aus Nutztieren so viel besser erforscht sind als jene in der freien Wildbahn. „SpillOver“ ist daher als Startpunkt zu verstehen: Wir hoffen, dass Wissenschaftler ihre Daten zu bereits bekannten Viren auf der Projektwebsite eintragen. Und hoffentlich auch zu solchen, die neu entdeckt wurden. Wenn Daten auf die übliche Weise publiziert werden, dauert das normalerweise Jahre. Diese Zeit haben wir angesichts der bestehenden Risiken nicht, wir brauchen die Informationen jetzt.

Studie zum Thema

Die Risikobewertung von bekannten und potenziellen neuen Krankheitserregern hat Mazet diese Woche im Fachblatt „PNAS“ vorgestellt: „Ranking the risk of animal-to-human spillover for newly discovered viruses“ (5.4.2021).

Von welchen Viren geht derzeit die größte Gefahr aus?

Mazet: Was an unserer Liste sofort auffällt: An der Spitze der Risikoliste befinden sich fast nur Coronaviren. Es sind auch ein paar andere darunter, Spumaviren und Paramyxoviren zum Beispiel, aber wie gesagt: Die größte Gefahr geht von Coronaviren aus – darauf haben viele Fachleute übrigens schon vor mehr als zehn Jahren hingewiesen. Wir müssen jetzt vorausschauen und dürfen nicht wieder überrascht werden.

Was ist das Besondere an Coronaviren?

Mazet: Sie springen sehr leicht von einer Art auf die andere über. Und manche ihrer Wirte, zum Beispiel Fledermäuse, können große Distanzen zurücklegen und den Erreger daher gut verbreiten.

Die Kontaktzone zwischen Fledermäusen und Menschen hält sich doch in Grenzen, oder?

Mazet: Nein, das stimmt nicht. Fledermäuse und Nager teilen sich sehr häufig ihr Habitat mit Menschen. Sie fallen nur nicht auf. Ich wette mit Ihnen, in den Häusern in Ihrer Nachbarschaft gibt es Fledermäuse. Wir haben Untersuchungen in Großstädten verschiedener Länder durchgeführt und Populationen gefunden, die manchmal Millionen Tiere umfassen. Ich erlebe oft, dass Leute zu mir sagen: „Wir haben hier keine Fledermäuse.“ Aber sie sind da, die Menschen bemerken sie nicht.

Zumindest haben wir nicht so nahen Kontakt wie zum Beispiel mit Haus- oder Nutztieren.

Mazet: Ja, das ist auch der Grund, warum die von diesen Tieren stammenden Krankheiten viel besser untersucht sind. Ein wichtiger Punkt ist: Wie nahe kommen Nutztiere mit Nagern und Fledermäusen in Kontakt? MERS wurde zum Beispiel von Fledermäusen auf Kamele übertragen, dort hat sich der Erreger weiter verbreitet und sprang schlussendlich auf den Menschen über.

Welche Rolle spielt die Zerstörung von Naturräumen?

Mazet: Das ist ebenfalls ein entscheidender Faktor. Wenn sich Städte und landwirtschaftliche Flächen ausdehnen, geraten die Ökosysteme aus dem Gleichgewicht. Unsere Untersuchungen an Fledermäusen zeigen: Wenn die Population bedroht ist, erhöhen die gestressten Tiere ihre Reproduktionsrate. Das begünstigt die Vermehrung von Viren.