Verschwommene Menge, Gesichter
Alexander Ozerov – stock.adobe.com
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„Super-Recognizer“

Wenn man jedes Gesicht wiedererkennt

„Super-Recognizer“ erkennen Gesichter, wenn selbst biometrische Algorithmen scheitern. Auch Masken hindern sie nicht daran. Für Menschen mit der seltenen Begabung ist das aber mitunter eher Fluch als Segen, erzählt eine Betroffene.

Mit Anfang zwanzig lebte Viviane Werdath als Studentin in Wien und war viel unterwegs. Immer wieder erkannte sie jemanden – auf der Straße, beim Einkaufen. Die Personen kamen ihr stets sehr vertraut vor, sie duzte sie sogar , freute sich: „Hallo, wir kennen uns doch, ich weiß nur grad nicht, woher. Nur die Reaktion hat nie gepasst: Da waren immer große Fragezeichen im Gesicht“, erzählt sie im Gespräch mit science.ORF.at. „Das ist mir sehr seltsam vorgekommen. Ich dachte eine Zeit lang, ich bin so unscheinbar, so wenig prägnant, dass die Leute mein Aussehen gleich wieder vergessen.“ Zum Teil waren das auch sehr unangenehme Begegnungen. Dass sie über eine besondere Begabung verfügte, kam ihr damals nicht in den Sinn.

Erst viele Jahre später hörte die studierte Psychologin in den Nachrichten das erste Mal den Begriff „Super-Recognizer“, und zwar nach der Silvesternacht 2015, in der es in Köln zu zahlreichen Übergriffen durch junge Männer gekommen war. Danach hatte die deutsche Polizei zur Täterfahndung Beamte der Londoner Metropolitan Police zu Hilfe gerufen, deren Spezialität: Gesichtserkennung. „Da ist dieser Begriff gefallen, und ich bin hellhörig geworden“, so Werdath.

Seltene Begabung

Tatsächlich ist das psychologische Konzept relativ jung. Erst vor gut zehn Jahren haben Forscher festgestellt, dass manche Menschen extrem gut darin sind, Gesichter wiederzuerkennen. Diese „Super-Recognizer“ erinnern sich sogar an Menschen, die sie nur einmal flüchtig gesehen haben, selbst wenn sich diese mittlerweile verändert haben oder inzwischen Jahre vergangen sind. Die Begabung ist sehr selten. Nicht mehr als ein bis zwei Prozent der Bevölkerung sollen sie besitzen.

Um die Fähigkeit relativ verlässlich festzustellen, haben Psychologinnen und Psychologen mittlerweile einige Tests entwickelt, wie z. B. den Glasgow Face Matching Test und den Cambridge Face Memory Test. Auf diese Tests ist auch Werdath bei ihrer Recherche gestoßen: „Ich habe es dann einfach ausprobiert. Und war dann doch sehr überrascht, dass ich anscheinend zu den oberen Prozent gehöre.“ Sie wurde daraufhin in den Probandenpool aufgenommen und bekommt regelmäßig Einladungen zu Tests.

Mehr Fluch als Segen

Worin sich die Gesichtsprofis bzw. ihre Wahrnehmung von anderen Menschen unterscheiden, ist trotz aller Untersuchungen bis heute unklar. Im Alltag merke sie eigentlich nichts von ihrer Begabung, betont Werdath: „Ich habe nicht den Eindruck, bewusst jemanden besonders genau anzuschauen, gar nicht. Das Einzige: Ich schau mir einfach gerne Leute an.“ In anderen Bereichen wie Intelligenz oder Gedächtnis schneiden Supererkenner in der Regel durchschnittlich ab. Viviane Werdath behauptet sogar von sich selbst, sie habe abgesehen von den Gesichtern ein ausgesprochen schlechtes Gedächtnis.

Menschen in der U-Bahn-Passage Karlsplatz
AFP/ALEX HALADA
Auch Masken sind für „Super-Recognizer“ kein Hindernis

Gebracht hat ihr die spezielle Begabung bis jetzt nicht sehr viel. „Für mich war es immer eher ein Handicap, weil ich immer wieder in peinlichen Situationen gelandet bin.“ Dabei ist die Fähigkeit mittlerweile nicht nur in der Forschung, sondern auch bei der Polizei gefragt. In Großbritannien werden „Super-Recognizer“ schon länger gezielt für Ermittlungen eingesetzt, denn die begabten Personen erkennen Gesichter oft treffsicherer als biometrische Algorithmen. Und sie sind nicht so fehleranfällig wie die umstrittene Gesichtserkennungssoftware.

Auch in Deutschland laufen schon einige Polizeiprojekte mit Supererkennern, etwa in München und Frankfurt. Hierzulande gibt es allerdings anscheinend derzeit kein Interesse vonseiten der Exekutive. „Die Reaktion war sehr verhalten“, so Werdath, die tatsächlich bei der Polizei nachgefragt hat, ob man ihre Begabung nicht brauchen könnte. „Es hieß, das Thema ist interessant, es wird auch verfolgt, stecke aber noch in den Kinderschuhen, insbesondere in Österreich.“

Masken kein Hindernis

Erst im vergangenen November – nach dem Terroranschlag in Wien – kam ihr wieder in den Sinn, wie hilfreich eine Fähigkeit wie ihre bei der Fahndung sein könnte, etwa bei der Sichtung von Video- und Fotomaterial. Im Vergleich zu Software ist der Aufwand verschwindend, „Super-Recognizer“ brauchen kein stundenlanges Training, um sich Gesichter zuerst zu merken und dann vielleicht wiederzuerkennen. Auch als Teil mobiler Fahndungseinheiten könnten sie sich etwa bei Veranstaltungen deutlich unauffälliger bewegen.

„Für mich reicht es ja, ein Gesicht anzuschauen, ich muss nichts berechnen“, unterstreicht Werdath. „Es ist auch egal, ob der Mensch eine Brille trägt oder eine Kapuze über dem Kopf, auch Gesichtsmasken – wie jetzt während der Coronazeit – sind für mich kein Hindernis.“ Erst kürzlich kam eine Studie im Fachmagazin „Royal Society Open Science“ zum Schluss, dass Supererkenner andere Menschen trotz Masken oder Sonnenbrillen deutlich treffsicherer erkennen als normal begabte Personen.

Für Viviane Werdath ist das nicht überraschend. „Schon jetzt werden bei den Tests, die gemacht werden, oft nur Teilausschnitte des Gesichts gezeigt. Manchmal ist alles sehr verpixelt, oder die Perspektive ist eine völlig andere.“ Jemanden mit Maske im echten Leben zu erkennen sei da vergleichsweise einfach. Generell komme bei den Tests erschwerend hinzu, dass es sich immer um Fotos handelt. Das sei relativ anstrengend und verlange mehr Aufmerksamkeit. „Wenn ich hingegen ein lebendiges Gesicht vor mir sehe, habe ich wirklich das Gefühl: Das locht ein – so wie ich es sehe, bleibt es in meinem Gedächtnis.“