Bub mit Kerze bei der Gedenkstätte für Tschernobyl
AFP/SERGEI SUPINSKY
AFP/SERGEI SUPINSKY
Nuklearkatastrophe

Studie: „Tschernobyl-Kinder“ ohne DNA-Schäden

Wie viele Tote die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl gefordert hat, ist bis heute umstritten. Auch die Langzeitfolgen der radioaktiven Strahlung, der besonders die Aufräumarbeiter ausgesetzt waren, sind unklar. Eine neue Studie hat Positives für sie zu berichten: Entgegen den Befürchtungen ist das Erbgut ihrer Kinder nicht geschädigt.

Am 26. April jährt sich die Explosion des Reaktors von Tschernobyl zum 35. Mal. Etwa 50 Menschen starben unmittelbar oder in den Wochen danach, wie viele weitere Opfer es durch strahlenbedingte Krebsfälle in den Jahrzehnten danach gab, ist unklar. Die Zahlen schwanken, je nach Quelle, zwischen 4.000 und 60.000. Wie sich die Strahlung auf die Gesundheit der Menschen vor Ort und auf deren Kinder ausgewirkt hat, wurde nun im Rahmen von zwei Studien von internationalen Forscherteams näher untersucht.

Untersuchung der Liquidatoren

In der ersten der beiden Studien, die beide in der Fachzeitschrift „Science“ veröffentlicht wurden, analysierte ein Team um die US-amerikanische Genetikerin Meredith Yeager Kinder von stark verstrahlten Eltern. Zum einen waren das ehemalige Bewohner und Bewohnerinnen der nahen Stadt Prypjat, zum anderen sogenannte Liquidatoren – also jene Arbeiter, die nach der Katastrophe mit ihrer Aufräumung und Beseitigung betraut wurden.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 23.4., 13:55 Uhr.

Es sind bereits zahlreiche Studien durchgeführt worden, in denen das generationsübergreifende Risiko von Strahlungen durch vom Menschen verursachte Katastrophen untersucht wurde, schreiben Yeager und ihr Team – etwa die Atombomben in Japan. Die Ergebnisse seien aber nicht eindeutig gewesen. Die Forscherinnen und Forscher konzentrierten sich daher in ihrer Arbeit auf Neumutationen in der Keimbahn.

Kein Hinweis auf generationsübergreifenden Effekt

Üblicherweise erbt ein Kind alle seine Gene von zumindest einem der beiden Elternteile; einige wenige jedoch entstehen durch zufällige Mutationen in den Keimzellen, also in den Spermien oder Eizellen. Die sogenannten de-novo-Mutationen spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Krankheiten. Erst seit Kurzem ist es möglich, solche Mutationen über das gesamte Erbgut und über Generationen hinweg zu untersuchen, so die Forscher.

Risikofaktoren für solch eine Mutation gibt es viele, wie der US-Genetiker und Studienautor Stephen Chanok gegenüber science.ORF.at erklärt: „Wir wissen, dass zum Beispiel das Alter der Eltern, speziell des Vaters, und die Rauch- und Trinkgewohnheiten Auswirkungen auf die Anzahl der de-novo-Mutationen bei Kindern haben. Je älter der Vater etwa ist, desto größer ist die Gefahr einer Mutation.“

Gedenkstätte für die Opfer von Tschernobyl (Liquidatoren)
AFP/SERGEI SUPINSKY
Gedenkstätte für die Opfer von Tschernobyl (Liquidatoren)

Auch radioaktive Bestrahlung sollte einen Risikofaktor darstellen, so die Grundannahme der Studie. Um sie zu überprüfen, hat das Forscherteam das Genom von 130 Kindern analysiert, bei denen zumindest ein Elternteil in Prypjat wohnte oder in Tschernobyl aufräumte. Sie wurden alle zwischen 1987 und 2002 geboren.

Das etwas überraschende Ergebnis: Bei den Kindern konnten keine übermäßig stark ausgeprägten neuen Keimbahnmutationen festgestellt werden. „Wir haben sehr viel Zeit damit verbracht, uns mit einer großen Anzahl an Experten auf dem Gebiet zu beraten, um sicherzugehen, dass wir keinen Anstieg der neuen Mutationen in Verbindung mit radioaktiver Strahlung feststellen konnten“, so Chanok. „Unser Forschungsergebnis liefert also keinen Hinweis auf einen generationsübergreifenden Effekt ionisierender Strahlung auf die Keimbahn-DNA beim Menschen.“

DNA-Doppelstrangbrüche für Krebs verantwortlich

In der zweiten Studie rund um den Tschernobyl-Unfall wurden die Auswirkungen radioaktiver Niederschläge auf Überlebende untersucht. Das internationale Forscherteam rund um die US-Epidemiologin und Genetikerin Lindsay Morton untersuchte dabei strahleninduzierten Schilddrüsenkrebs – eine der am häufigsten beobachteten Krebserkrankungen nach dem Tschernobyl-Unfall.

Dass radioaktive Strahlung das Krebsrisiko erhöht, wurde bereits mehrfach untersucht. Das Ziel der Forscherinnen und Forscher war es jedoch, ein detailliertes molekulares Verständnis der Tumore zu entwickeln. Sie analysierten daher Schilddrüsentumore, normales Schilddrüsengewebe und Blut von Hunderten von Überlebenden des ukrainischen Atomunfalls und verglichen die Ergebnisse mit denen von Menschen, die keiner radioaktiven Strahlung ausgesetzt waren.

Die Tschernobyl-Opfer wiesen demnach eine deutliche Erhöhung von Doppelstrangbrüchen der DNA auf. Das lege nahe, dass die Entwicklung von Schilddrüsentumoren nach radioaktiver Strahlung genau auf diesen Schaden im Genom zurückzuführen sei. Mit den Forschungsergebnissen könne man, so die Studienautoren, den heutigen Strahlenschutz und insgesamt die öffentliche Gesundheit verändern und in manchen Bereichen verbessern.