Als Schattenriss heben sich ein Radfahrer und Platanen vor der aufgehenden Sonne ab.
dpa/Gero Breloer
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Literarische Botanik

Pflanzen lesen, Kultur verstehen

Bäume und Blumen als intelligente Wesen: Seit einigen Jahren beschäftigt sich auch die Kulturwissenschaft stärker mit der Gemeinschaft der Pflanzen. Wie dieses Forschungsprogramm unser Weltbild verändert hat, beschreibt die Literaturwissenschaftlerin Isabel Kranz in einem Gastbeitrag.

Das Interesse an Pflanzen und am Gärtnern hat im letzten Jahr deutlich zugenommen. Glaubt man den zahlreichen Zeitungsberichten zum Thema, so gab es in den Lockdowns eine große Nachfrage nach Setzlingen und Blumenerde, Zimmerpflanzen und Saatgut. Diese neu gefundene Liebe zu den Pflanzen lässt sich nicht allein mit dem Wegfall anderer Tätigkeiten oder der Lust auf selbstgezogene Tomaten erklären.

Literaturwissenschaftlerin Isabel Kranz
IFK

Über die Autorin

Isabel Kranz ist Literaturwissenschafterin, Autorin und Mitbegründerin des Literary and Cultural Plant Studies Network.

Am 26. April hält die Forscherin vom Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften den Online-Vortrag „Plants as Agents and Tropes of Translation“.

Vielmehr macht es Menschen anscheinend glücklich, in einer als bedrohlich erscheinenden Weltlage ein anderes Wesen im eigenen Heim am Leben zu erhalten. Pflanzen, die so oft als rein schmückender Hintergrund verstanden werden, treten so ins Zentrum der Sorge und lehren uns nicht nur etwas über ihr eigenes Dasein, sondern über unsere geteilte Lebenswelt.

Sie handeln und kommunizieren

Dabei ist die Erkenntnis, dass Pflanzen weitaus aktiver sind, als Menschen es ihnen bisweilen zugestehen, nicht neu. Bereits um 1900 hat der österreichische Botaniker und Pflanzenforscher Raoul H. Francé in seinem mehrbändigen Werk „Das Leben der Pflanze“ (ab 1906) die Welt des Vegetabilen für ein breites Publikum erschlossen. In zahlreichen populären Sachbüchern wird seit einigen Jahren die Intelligenz der Pflanzen beschrieben, so im gleichnamigen Buch des Pflanzengenetikers Daniel Chamovitz und in den Schriften des Botanikers Stefano Mancuso.

Bereits 2001 hat der amerikanische Wissenschaftsjournalist Michael Pollan in „Die Botanik der Begierde“ die These vorgeschlagen, dass sich eher Pflanzen Menschen zunutze machen als umgekehrt, und mittlerweile sind vielen Leser_innen die zahlreichen Publikationen des deutschen Försters Peter Wohlleben und sein Verständnis vom Wald als einem breit angelegten Kommunikationsnetzwerk bekannt.

Historische Zeichnung von Algen, Farnen und Blütenpflanzen
Public domain, via Wikimedia Commons
Aus: „Das Leben der Pflanze“ (1906)

All diese Sachbücher stützen sich auf Forschungsergebnisse der Biologie, die allgemeinverständlich dargestellt, das heißt: erzählt werden. Sie beziehen dabei immer wieder ein Wissen von den Pflanzen mit ein, das nicht aus den Naturwissenschaften, sondern aus der Literatur stammt. Denn ebenso wie sie uns im Alltag beinahe ständig umgeben, sind Pflanzen in Märchen, Erzählungen und Gedichten allgegenwärtig. Und was noch wichtiger ist: In diesen literarischen Texten können sie schon immer kommunizieren, handeln und etwas bewirken, sind also durchaus aktive und manchmal sogar intelligente Gegenüber des Menschen.

Ein neuer Blick: Cultural Plant Studies

Es liegt daher nahe, sich der Rolle von Pflanzen in der Literatur auf ein Neues zuzuwenden und danach zu fragen, wie sich diese mit den aktuellen biologischen Erkenntnissen zusammendenken lässt. Unter dem breit verstandenen Paradigma der Literary and Cultural Plant Studies ist dies seit einigen Jahren Forschungsprogramm.

Die neuen Literatur- und kulturwissenschaftliche Pflanzenstudien widmen sich Pflanzen nicht wie bisher als rein ästhetischen Motiven in Gedichten oder als für immer festgelegten Symbolen, deren Bedeutung sich in Handbüchern nachlesen und dann auf einen Text oder ein Bild anwenden lässt.

Sie fragen vielmehr mit den wissenschaftlichen Methoden ihrer jeweiligen Disziplin danach, welchen Beitrag Pflanzen in literarischen Texten und den visuellen Medien leisten, was ihre Darstellung zu einem aktualisierten Verständnis des Vegetabilen beitragen kann und inwiefern gerade die erzählenden und darstellenden Künste berufen sein könnten, eine gesteigerte Aufmerksamkeit für Pflanzen angesichts der Herausforderungen des Anthropozäns und des Artensterbens hervorzurufen.

Blüte in Großaufnahme: Fotografie von Karl Blossfeldt
Public domain, via Wikimedia Commons
Fotografie von Karl Blossfeldt (1866 – 1932)

Die Arbeit an und mit den Pflanzen nimmt dabei unterschiedliche Formen an. So werden einerseits ältere Pflanzentexte wie der zuvor erwähnte Francé oder die Schriften des Naturphilosophen Gustav Theodor Fechner neu gelesen, im Rückgriff auf die antike Literatur nach einer „arborealen Poetik“ gefragt oder anhand der Fotografien Karl Blossfeldts die Verbindung zwischen Ästhetik und Zweckgerichtetheit untersucht. Die einzelnen Projekte sind dabei ebenso vielfältig wie das Reich der Pflanzen selbst.

Literaturhinweise

Isabel Kranz: Sprechende Blumen. Ein ABC der Pflanzensprache, Berlin: Matthes & Seitz, 2014

Das literarische Leben der Pflanzen: Poetiken des Botanischen, hg. v. Joela Jacobs und Isabel Kranz, Literatur für Leser 40:2 (2017, erschienen im August 2019).

Stephanie Heimgartner, Simone Sauer-Kretschmer und Solvejg Nitzke: Baum und Text. Neue Perspektiven auf verzweigte Beziehungen, Ch. A. Bachmann Verlag, 2020.

Philosophie der Pflanzen

Inspiriert werden diese konkreten historischen Untersuchungen von der ebenfalls seit einigen Jahren neu durchdachten Pflanzenphilosophie eines Michael Marder oder Emanuele Coccia, die den auch in der Philosophie vernachlässigten Pflanzen in den letzten Jahren wieder zu mehr Sichtbarkeit verholfen haben.

Besonders hervorzuheben sind zudem die Beiträge aus der Anthropologie, beispielsweise von Natasha Myers, die kulturvergleichend argumentieren und immer auch ein jeweils spezifisches lokales Verständnis von Pflanzen in Blick haben; eine Verbindung, die auch die literarisch herausragenden Schriften der Pflanzenökologin, Schriftstellerin und First Nation-Angehörigen Robin Wall Kimmerer auszeichnen.

Diese interdisziplinären und internationalen Verflechtungen führen neben spezifischen Lektüren und Neuentdeckungen auch zu einer theoretischen Auseinandersetzung mit der eigenen Disziplin und der Rolle, die Begriffe pflanzlichen Ursprungs darin spielen. So fragt ein zurzeit im Entstehen begriffenes Literatur- und kulturwissenschaftliches Handbuch zu Pflanzen danach, inwiefern das Wissen um die Formen und Funktionen von Pflanzen und deren Bestandteilen wie Wurzeln, Blätter oder Blüten unser übertragenes oder tropisches Verständnis dieser Termini verändert.

Warum stehen Wurzeln beispielsweise oftmals als Sinnbilder für menschliche Herkunft ein, welche anderen Bedeutungsbereiche rufen Wurzeln noch auf (z. B. das Radikale von lat. Radix oder den Austausch mit anderen, im Sinne von Wurzelnetzwerken)?

Kulturtechniken können ja in erster Linie als Praktiken mit Pflanzen verstanden werden (im Sinne des lateinischen colere: urbar machen durch Anbau von Pflanzen). Insofern befassen sich die Literatur- und Kulturwissenschaften mit der Wendung hin zum Vegetabilen nicht in erster Linie mit fachfremden Gegenständen, sondern setzen sich im Gegenteil mit ihrem ureigensten Gebiet auseinander.