Der österreichische Psychoanalytiker Erwin Ringel
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Erwin Ringel

Analytiker der österreichischen Seele

Für die einen war er ein Nestbeschmutzer, für die anderen „der“ Analytiker der Nation. Erwin Ringels in den 1980er Jahren erschienenes Buch „Die österreichische Seele“ ließ kaum einen kalt. Vor 100 Jahren, am 27. April 1921, wurde der Psychiater geboren.

Die Österreicherinnen und Österreicher erziehen ihre Kinder zu Neurotikern – überhaupt sei dieses Land die Brutstätte der Neurose schlechthin, schrieb Ringel 1984 im Buch „Die österreichische Seele“. Denn die drei wichtigsten Erziehungsziele hierzulande würden lauten: Gehorsam, Höflichkeit, Sparsamkeit.

„Von da kommt die Bereitschaft des Österreichers zu devotem Dienen – mehr noch – zu vorauseilendem Gehorsam. Das heißt, Befehle – noch ehe sie ausgesprochen – zu erahnen und zu erfüllen. Das Wort Glücklichsein scheint gar nicht auf. Kinder werden eingeschränkt, eingeengt, dürfen keine Eigenexistenz führen, sind Werkzeuge, mit denen die Eltern ihre eigenen Ziele erreichen wollen“, so Ringel.

„G’sunde Watschen“ lange verbreitet

35 Jahre später, im Zeitalter besorgter Bobo- und Helikoptereltern, mögen solche Worte fast antiquiert klingen. Aber Ringel schrieb sie ja auch als Zeitgenosse der (Nach)Kriegsgeneration. Autoritäre Erziehungsmethoden blieben weit über die 1960er Jahre hinaus in der „österreichischen Seele“ haften. Auch wenn Schriften wie der Struwwelpeter nicht mehr als pädagogische Standardwerke aufgelegt wurden – die „g’sunde Watschen“ galt noch lange als probate Erziehungsmethode. Das absolute Gewaltverbot in der Erziehung wurde in Österreich erst 1989 gesetzlich verankert – vier Jahre nach Ringels Buch.

Geburt der Neurose

Ringel prangerte neben der physischen stets auch die psychische Gewalt an. Wenn ein Kind geschlagen, beleidigt, nicht wertgeschätzt und gleichzeitig in seiner Entfaltung eingeschränkt wird, entwickelt es Aggressionen gegen die Eltern, so der Psychiater. Da es diese den Erziehungsberechtigten gegenüber aber nicht ausleben darf, richte das Kind die Aggression gegen sich selbst sowie gegen andere, meist Schwächere. Gleichzeitig fühle sich der Heranwachsende schuldig für seine unterdrückte Wut – die Neurose ist geboren.

– Der Psychiater und Analytiker Erwin RINGEL
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Jede Aggression gegen andere ist nach Ringel immer eine Schädigung der eigenen Person. „Der Neurotiker ist immer auf der Suche nach Möglichkeiten, zwei Fliegen mit einem Schlag zu treffen. Einerseits die anderen anzugreifen und andererseits sich selber zu vernichten.“ Der Alkoholiker etwa trinke, um seine Emotionen freisetzen zu können, aber auch um sich selber zu zerstören.

Der Hang zur Verdrängung sei ein Charakteristikum Österreichs, in den Worten Ringels: „Das heißt, die Dinge nicht wirklich bis zum Ende auszutragen, den Dialog – sofern es ihn überhaupt gibt – vorzeitig abzuwürgen und dann mit den ungelösten Problemen als einem zu großen Gepäck am Buckel herumzulaufen.“

Gegen das NS-Regime

Geboren wurde Ringel am 27. April 1921 in Timisoara, im heutigen Rumänien, dem Heimatort seiner Mutter. Mittelschule und Matura absolvierte er in Wien, wo er sich auch in der katholischen Jugendbewegung engagierte. Dem Hitler-Regime begegnete er mit Opposition, 1939 wurde er als 18-Jähriger kurzzeitig von der Gestapo verhaftet, weil er an einer antinationalsozialistischen Großkundgebung auf dem Stephansplatz, dem „Rosenkranzfest“, teilgenommen hatte.

Später wurde er zum Kriegsdienst eingezogen, wo er im Lazarett bereits erste medizinische Erfahrungen sammelte. Kurz darauf beleidigte er seinen Vorgesetzten und schimpfte auf Hitler. Durch den Einsatz befreundeter Ärzte kam er danach nicht nur mit dem Leben davon, sondern wurde auch aufgrund „psychiatrischer Probleme“ vorzeitig aus der Wehrmacht entlassen. Angeblich weckte dieser Vorfall sein Interesse für sein späteres Spezialgebiet.

Der österreichische Psychoanalytiker Erwin Ringel, der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) und die damalige Frauenministerin Johanna Dohnal (SPÖ) während einer Pressekonferenz im Jahr 1992
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Erwin Ringel, der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) und die damalige Frauenministerin Johanna Dohnal (SPÖ) während einer Pressekonferenz im Jahr 1992

„Weg mit den Zwangsjacken“

1946 promovierte Ringel in Medizin und begann seine Tätigkeit an der Universitätsklinik in Wien. Chef Hans Hoff brachte aus den USA eine damals neue Psychiatrie nach Österreich. „Weg mit den Zwangsjacken, weg mit den Gittern“, so Ringel, der in dieser Zeit seine Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie in Wien absolvierte.

Der Mediziner beschäftigte sich intensiv mit dem Thema Suizidgefährdung. Er ortete Gemeinsamkeiten unter Selbstmordkandidaten und formulierte das „präsuizidale Syndrom“, das er auch allgemein verständlich formuliert den Menschen näherbrachte. So gelten etwa „gefühlsmäßige Einengung, das stark reduzierte Selbstwertgefühl oder das Gefühl des Getrieben-Werdens“ als typisch für Suizidgefährdete.

Vorreiter der Suizidforschung und Psychosomatik

1948 begann Ringel mit dem Aufbau des Wiener Kriseninterventionszentrums. Es wurde eine rund um die Uhr funktionierende Betreuungsstelle für Gefährdete. Ringel war Individualpsychologe. Sein Credo lautete: „Die Psychiatrie darf nicht einseitig sein.“ Die Erkenntnisse über die körperlich-kranken und krankmachenden Abläufe im Gehirn und die Psychotherapie gehören seiner Meinung nach gleichermaßen in der Psychiatrie berücksichtigt.

Veranstaltungshinweis

Dem Vermächtnis von Erwin Ringel widmet sich auch eine Veranstaltung im Radiokulturhaus: „Auf eine Melange mit Musalek: Erwin Ringel“, 27.4., 19:30

Neben der Selbstmordverhütung hat sich der Wiener auch der Psychosomatik verschrieben. Er baute an der Klinik eine eigene Abteilung dafür auf und machte mit der Studie „Der fehlgeleitete Patient“ Furore. Er wies nach, dass Patienten mit psychosomatischen Störungen – gut 50 Prozent aller Kranken – in Österreich oft jahrelang von einem Facharzt zum nächsten laufen, bis sie an einen entsprechend ausgebildeten Psychosomatiker kommen.

Individuen und Gesellschaft behandeln

Der Mann mit dicker Hornbrille und ausgeprägtem Faible für Georg Kreisler, aber auch die Oper, war keineswegs öffentlichkeitsscheu. Er verstand es, das Publikum mit seinen unkonventionellen Auftritten zu fesseln und für sein Arbeitsgebiet zu interessieren. Und Ringel hat sich auch zu den wichtigsten Fragen der Zeit – ob Hainburg, Minderheiten oder Neofaschismus – immer wieder geäußert: „Da gibt es in der Psychotherapie eine Strömung, die besagt, dass man sich nur dem Einzelpatienten widmen soll. Dann gibt es eine andere Auffassung, die sagt ‚Was behandelt Ihr einzelne Leute, revolutioniert die Gesellschaft‘. Ich glaube, man muss beides tun.“ Ringel erlag am 28. Juli 1994 im Alter von 73 Jahren einem Herzversagen.