Im Tunnel: Der Teilchenbeschleuniger LHC am Kenrforschungszentrum CERN
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Teilchenphysik

„Der Beginn einer großen Sache“

Experimente in der Schweiz und den USA weisen auf die Existenz neuer Teilchen oder einer neuen Naturkraft hin. Das physikalische Weltbild steht vor einem Umbruch: „Wir können schon von einem Nachweis sprechen“, sagt der österreichische Teilchenphysiker Josef Pradler. „Jetzt gilt es herauszufinden, was dahintersteckt.“

Der Aufwand war groß, die Ergebnisse zunächst mager. Lange wurde mit Hilfe von Teilchenbeschleunigern nach der sogenannten neuen Physik gesucht, die Theorie der Supersymmetrie, der man lange die besten Chancen zurechnete, all die Teilchen und Kräfte im Universum unter einem neuen Dach zu vereinen, wollte sich nicht zeigen, auch im x-ten Anlauf nicht. Und was sich in den letzten Jahren doch zeigte, wie zum Beispiel die überlichtschnellen Neutrinos, erwies sich im Nachhinein als Fehlalarm.

Langsam schien sich Frustration breit zu machen im Lager der Teilchenphysiker – und der Gedanke: Ist die gesuchte Physik, die über die bisherige Naturbeschreibung hinausgeht und der Wissenschaft neue Horizonte eröffnet, eine Chimäre? Eine Vorstellung, die bloß in den Köpfen der Theoretiker existiert?

Und plötzlich ging es Schlag auf Schlag. Ende März gab das Team des LHCb-Experiments am Kernforschungszentrum CERN bekannt, dass der Zerfall von bestimmten Teilchen nicht so verläuft, wie vom Regelwerk vorgesehen. Das Regelwerk ist das bestens bestätigte Standardmodell, das allen bisher bekannten Teilchen – von den Quarks bis zum Elektron – ihren Platz im Wirkungsgefüge der Natur zuweist.

„Evidenz für unbekannte Teilchen“

Worum geht es in dem Experiment? Letztlich um einem speziellen Teilchenzerfall, bei dem unter anderem Elektronen und Myonen entstehen. Die beiden gehören zur gleichen Teilchengruppe und sind bis auf ihre Masse ident, man könnte auch sagen: Myonen sind Elektronen, nur eben mit Übergewicht. Die Natur sollte die beiden Teilchen jedenfalls laut Theorie völlig gleich behandeln.

Tut sie aber nicht, berichten nun die CERN-Forscher: Bei dem untersuchten Zerfall entstehen mehr Elektronen als erwartet. Was sich wie eine buchhalterische Randnotiz anhört, ist in Wahrheit ein Riss im Weltmodell. Denn wenn dieses Detail der Theorie nicht stimmt, stimmt auch das große Ganze nicht. Sollte es dabei bleiben, braucht die Physik eine neue Grundlage, eben eine neue Physik, von der schon so lange die Rede ist.

Momentane Wahrscheinlichkeit dafür: mehr als 99,99 Prozent. Das ist noch nicht ganz der statistische Goldstandard in diesem Fach (99,9999 Prozent), aber schon nahe dran. Der britische Science and Technology Facilities Council kommentierte die Ergebnisse ebenso knapp wie bedeutungsschwer: Dies sei „eine starke Evidenz für bisher unbekannte Teilchen oder eine neue Kraft“.

Und wieder die Myonen

Bereits zuvor hatten Physiker und Physikerinnen des Fermilab bei Chicago einen jahrelang gehüteten Zahlencode aus dem Tresor geholt, um die verschlüsselten Daten eines seit 2017 laufenden Experiments namens g-2 zu dechiffrieren. Der Öffentlichkeit vorgestellt wurde das Resultat am 7. April, auch hier deutete sich eine Sensation an: Die Vorhersagen des Standardmodells verfehlen das Messergebnis. Der Magnetsinn der Myonen, darum geht es beim g-2-Experiment, ist offenbar größer als die Theorie es erlaubt.

Zu dem gleichen Ergebnis waren Forscher des Brookhaven National Laboratory auf Long Island im US-Bundesstaat New York schon im Jahr 2001 gekommen. Damals wurde das noch als Eintagsfliege behandelt, nun jedoch summiert sich die statistische Sicherheit der beiden Experimente auf über 99,99 Prozent, also auf einem ähnlichen Niveau wie jene der LHCb-Kollaboration.

Noch eine Parallele: Auch am Fermilab sind es die Myonen, die das große Ganze in Frage stellen – ist das Zufall? Josef Pradler vom Institut für Hochenergiephysik der Akademie der Wissenschaften hält es für möglich, dass beide Phänomene die gleiche Ursache haben.

Theoretischer Physiker Josef Pradler
Hephy/ÖAW

Zur Person

Josef Pradler leitet die Theoriegruppe Dunkle Materie am Institut für Hochenergiephysik der Akademie der Wissenschaften.

science.ORF.at: Herr Pradler, sie leiten an ihrem Institut die Arbeitsgruppe für neue Physik. Zeigt sie sich jetzt endlich?

Josef Pradler: Am Himmel zeigt sich die neue Physik schon lange. Meine Arbeitsgruppe beschäftigt sich vorrangig mit Theorien zur Dunklen Materie. Das Dunkle-Materie-Problem lautet: Es gibt zu wenig Masse im Universum – und zwar auf allen Längenskalen. Das betrifft die Galaxis und gilt bis zum Rand des beobachtbaren Universums. Die Dinge, die Sie ansprechen, beziehen sich auf Laborexperimente. Das ist für uns der Goldstandard – und hier verdichten sich tatsächlich die Hinweise, dass etwas Neues gefunden wurde. Das ist sehr aufregend, es könnte der Beginn einer neuen Ära der Teilchenphysik sein.

Auffällig ist jedenfalls, dass die Myonen in beiden Experimenten eine Schlüsselrolle spielen.

Pradler: Das Myon ist der schwere Partner des Elektrons, und dann gibt es noch ein drittes noch schwereres Teilchen, das Tau. Die drei gehören zu den drei verschiedenen Teilchengenerationen, wie wir das im Standardmodell nennen. Nachdem die beiden Experimente am Fermilab und am CERN völlig unabhängig sind, kann man sagen: Und es wirkt wirklich so, als würde die Natur die drei Generationen nicht gleich behandeln.

Diese Gleichbehandlung ist ein zentraler Gedanke des Standardmodells, tut sich da ein Riss im Fundament auf?

Pradler: Ganz genau, das Standardmodell baut auf einer Symmetrie auf und in dieser Struktur sind die drei Teilchengenerationen völlig gleichberechtigt. Und genau hier kommt es jetzt zum Bruch. Durchaus unerwartet, man auch spricht von der Verletzung der Leptonenuniversalität. Oder, nachdem wir im Zusammenhang mit den drei Generationen auch von „flavors“ sprechen: Es sieht so aus, als würde der Natur das Elektron besser schmecken.

Wie wahrscheinlich ist es, dass sich die Anomalien doch noch als zufällige Häufungen entpuppen?

Pradler: Was an den Experimenten am Fermilab so aufregend ist: Beim magnetischen Moment des Myons gibt schon lange eine Anomalie, entdeckt wurde sie ursprünglich am Brookhaven National Lab vor 20 Jahren. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine statistische Fluktuation handelt, war damals eins zu ein paar Hundert. Jetzt wurden die Messungen am Fermilab wiederholt – und das Ergebnis ist: Die Forscher bekommen den gleichen Wert und den gleichen Fehlerbalken.

Wenn man beide Statistiken kombiniert, dann kommt man auf eine Fehlerwahrscheinlichkeit von eins zu Hunderttausend. Hier zweifelt, glaube ich, niemand mehr am Ergebnis, das magnetische Moment des Myons ist ein wahrer Wert.

Die Wahrscheinlichkeiten sind noch nicht ganz auf dem Niveau, ab dem man von einer offiziellen Entdeckung sprechen kann, oder?

Pradler: Was das CERN betrifft, haben wir bisher nur von einer Anomalie gesprochen, nämlich die Verletzung der Leptonenuniversalität. Aber es gibt noch einige andere Anomalien, die mit den Myonen zu tun haben. Wenn man das alles zusammennimmt und eine Gesamtschau bildet, ist der Goldstandard bereits erreicht. Es gibt also durchaus Gründe, aufgeregt zu sein. Da ist sehr sehr wahrscheinlich etwas da. Und jetzt gilt es herauszufinden, was dahinterstecken könnte.

Gibt es eine gemeinsame Erklärung für die beiden Messergebnisse am CERN und am Fermilab?

Pradler: Das lässt sich arrangieren, die Modelle sind nur nicht unbedingt hübsch. Man könnte sogar die Dunkle Materie dranhängen und so drei Fliegen mit einem Schlag erwischen. In der Theorie gibt es jedenfalls viele Möglichkeiten, die Phänomene zu erklären.

Die Existenz neuer Teilchen wäre eine Möglichkeit?

Pradler: Ja, sogenannte Leptoquarks wären ein heißer Kandidat. Leptoquarks sind neue Elementarteilchen, die man auch in eine „Grand Unified Theory“ einbetten könnte. Das wäre an sich ein schönes Bild, aber da tun sich dann auch gleich wieder Probleme auf: Man müsste an den Schrauben drehen, damit sich alles mit den Experimenten verträgt. Die Möglichkeiten sind noch nicht kartografiert, der Phantasie sind momentan keine Grenzen gesetzt. Das Schöne daran ist: Um die Phänomene zu erklären, brauchen wir eine neue Physik, die von den Energieskalen der Teilchenbeschleuniger nicht weit entfernt ist.

Es könnte weitere Entdeckungen geben?

Pradler: Durchaus, der LHC, der große Teilchenbeschleuniger des CERN, beginnt seinen nächsten experimentellen Lauf im nächsten Jahr. Und in Japan ist gerade das Belle-II-Experiment angelaufen. Damit können wir den Anomalien auf den Zahn fühlen und auch zusätzliche Teilchenzerfälle ausmessen. Es wirkt wirklich so, als wäre das der Beginn einer großen neuen Sache.

Und wenn die Energien in den Beschleunigern doch nicht ausreichen?

Pradler: Dann wäre das ein guter Grund, einen noch größeren Beschleuniger zu bauen. Der LHC am CERN erreicht momentan etwa 10 Teraelektronenvolt. In Diskussion sind Experimente mit 100 Teraelektronenvolt.

Wie sieht es aus mit Chinas Plänen, so einen Mega-Beschleuniger zu bauen?

Pradler: Da müssten Sie das Zentralkomitee fragen, ich kann Ihnen leider keine gute Auskunft geben.

Sie haben vorhin erwähnt, dass die Erweiterungen des Standardmodells nicht alle hübsch sind. Vielleicht muss sich die Physik vom Ideal der mathematischen Schönheit verabschieden?

Pradler: Das ist durchaus möglich, nur braucht man als theoretischer Physiker auch Anhaltspunkte und Organisationsprinzipien. Ich mache meine Modelle gerne minimal, setze ein Stück nach dem anderen rein und schaue was passiert. Natürlich gäbe es auch die Möglichkeit einer großen Erweiterung nach der Top-down-Methode: Die sogenannte Supersymmetrie wäre so ein Ansatz. Hinter dieser Theorie steckt ein einfaches Prinzip – aber wenn man das kauft, dann tut sich ein großes Gebäude auf mit vielen Zimmern, Treppen und Verbindungstüren. Sich da zurechtzufinden, wird nicht einfach.