Alte Schwarz-Weiß-Fotos liegen übereinander
capude1957 – stock.adobe.com
capude1957 – stock.adobe.com
Gastbeitrag

Die Geschichte der Geschichtswissenschaften

Seit drei Jahrzehnten erscheint die „Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften“ (OeZG). Zum Geburtstag skizziert der Historiker und Mitbegründer Reinhard Sieder in einem Gastbeitrag die wichtigsten Veränderungen der Disziplin – von objektivistischen Erkenntnisgrundlagen hin zu einer historischen Sozial- und Kulturwissenschaft.

110 Bände mit geschätzt 22.000 Druckseiten hat die OeZG seit ihrer Gründung im Jahr 1990 veröffentlicht. Etwa 1.500 Herausgeber*innen, Redakteur*innen und Autor*innen waren am Werk. Was die Gründer planten, geht aus dem Editorial des ersten Bandes hervor. Nicht die Durchsetzung einer bestimmten Richtung der Geschichtswissenschaft oder gar eine „neue Geschichte“ seien ihr Projekt, sondern die Mobilisierung und Nutzung vorhandener Innovationspotenziale durch den Diskurs, ein Hin- und Herlaufen der Rede zwischen sozial-, kultur- und geschichtswissenschaftlichen Disziplinen.

Porträtfoto von Reinhard Sieder
privat

Über den Autor:

Reinhard Sieder war a.o. Univ.-Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Wien. Seit seiner Pensionierung 2015 ist er freier Autor, Vortragender und bildender Künstler. Er lebt und arbeitet in Wien und in Tenerife.

Die Grenzen zwischen den Fächern wurden in den vergangenen 30 Jahren immer poröser. Viele neue Konzepte zogen in die Geschichtswissenschaften ein. Sie wurden zu travelling concepts: Praxis, ökonomisches Kapital, symbolisches Kapital, Feld, Habitus, Alltagsleben, Lebenswelt u. a. kamen aus westlichen Soziologien; Metapher, Narrativ, Mythos, Diskurs, Dispositiv kamen aus Philosophie und Wissenschaftsforschung, Kultur- und Literaturwissenschaft. Philosophen wie Foucault oder Lyotard durchdachten das Verhältnis von Wissen und Macht. All dies veränderte die Geschichtswissenschaften erheblich und zeigt sich in vielen Bänden der OeZG. Davon soll hier die Rede sein.

Bourdieu / Giddens: Neue Theorien

Anfang der 1980er Jahre setzt in der transatlantischen Welt Kritik am Parsonschen Strukturfunktionalismus und am Strukturalismus ein, die, nicht identisch, aber verwandt, in den 1970er Jahren mit der Hohen Moderne ihren Zenit überschreiten. Es ist kein Zufall, dass Strukturfunktionalismus und Strukturalismus mit der neoimperialistischen Modernisierungspolitik gegenüber der Zweiten und Dritten Welt zusammenfallen. Bourdieu, Giddens, Soeffner, Geertz und andere Kritiker setzen hingegen wieder bei Grundthesen der historischen Kulturwissenschaft Max Webers an. Sie fokussieren auf die sozialökonomisch kontingente (gestaltungsabhängige) Veränderung der Lebenswelten. Mit Weber gehen sie davon aus, dass „soziales Handeln“ oder „Interagieren“ die kleinste analytische Einheit der historischen Sozial- und Kulturwissenschaft sei.

Fast gleichzeitig wird das Konzept der Praxis von Pierre Bourdieu in Paris und Anthony Giddens in London ausformuliert. Viele Sozial- und Kulturwissenschaftler, mit leichter Verspätung auch Historiker*innen, übernehmen es zusammen mit den dazugehörigen Konzepten des Feldes im sozialen Raum, der Kapitalsorten und des Habitus. Im Rückblick zeigt sich: Es ist die allererste explizite Handlungs- und Sozialtheorie in den Geschichtswissenschaften. Bourdieu bezeichnet das Paradigma als „Praxeologie“. Sie sei imstande und verfolge den Zweck, jede Spielart des Objektivismus (etwa des Historischen Materialismus oder der liberal-kapitalistischen Wirtschaftstheorie) gleichwie jede Spielart des Subjektivismus (etwa der historistischen Geschichtswissenschaft) hinter sich zu lassen. Giddens prägt den missing link zwischen Struktur und Akteur: Strukturierung als Handlung, als Praxis. Die „theoretischen Werkzeuge“ der Praxeologie verändern die Konstruktion des Sozialen und des Ökonomischen, der Politik, der Wissenschaft und der Künste, der Religionen und der Alltagskulturen, der Geschlechter und ihrer Sexualität, u.a.m.

Die Revision epistemischer Ordnungen

Geschichtswissenschaften schleppen – vielleicht mehr als andere Wissenschaften – fragwürdig gewordene Konzepte und epistemische Ordnungen weiter mit sich. Dazu zählen u.a. objektivistische Klassentheorien, binäre Produktivitätstheorien, biomorphe Theorien der Geschlechter und der sexuellen Orientierung, naturalisierte Konzepte wie ‚Haus‘, ‚Familie‘, ‚Subjekt‘ oder ‚Nation‘. Sie hypostasieren ‚Geschichte‘ mit einer Abfolge von ‚Epochen‘ und teleologischem Fortschritt. Erst in den 1970er und 1980er Jahren geraten diese Ordnungen in Zweifel. Offensichtlich gelingen Kritik und Berichtigung nur im multi- und transdisziplinären Diskurs der Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften.

Unter anderem geht es darum, das praktische Leben der Akteur*innen in Raum und Zeit nicht mehr zu ontologisieren, sondern empirisch-historisch zu rekonstruieren. „Was existiert, das ist ein Raum von Beziehungen“, formuliert Pierre Bourdieu und setzt damit eine Reform in weiten Teilen der Historischen Sozial- und Kulturwissenschaften in Gang.

Vermessung und Visualisierung der sozialen Beziehungen

Kategorien von Raum und Zeit sind ubiquitär, bleiben aber meist implizit und gehen unbemerkt in die Konstruktion von Forschungsgegenständen ein: ‚Heimat‘ ‚Europa‘, ‚der Westen‘, ‚der Osten‘, der ‚Kulturraum‘, ‚die Unterklasse‘, ‚sozialer Aufstieg‘, ‚Globalisierung des (Welt)Handels‘ und so fort. Abstrakte, metaphorische und phänomenologische, die im Wortsinn ‚ego-zentrisch‘ von der Mitte des Leibes ausgehen (oben, unten, rechts, links, vorne, hinten), sehr oft binäre und ontische Kategorien purzeln durcheinander.

Links

Veranstaltung:

Am 6. Mai, ab 18 Uhr findet die Festveranstaltung „OeZG 30+1“ online statt.

2006 erscheint dazu der OeZG-Band „Die Räume der Geschichte“. Alexander Mejstrik, damals leitender Redakteur und Mitherausgeber der OeZG, spricht sich in seinem Beitrag für ein „epistemologisches Profil“ aus, das es Historiker*innen ermögliche, die von ihnen meist stillschweigend vorausgesetzten Räume bewusster zu konstruieren und mythische Vorstellungen zu berichtigen. Er folgt damit einem Vorschlag des Philosophen und Wissenschaftstheoretikers Gaston Bachelard.

Beziehungen und Verhältnisse von (individuellen und kollektiven) Akteur*innen, Bewegungen von Kapitalströmen, Transfers von Waren, Gewohnheiten, Wissen und Technologien bestehen und reproduzieren sich in Räumen, die sie damit auch konstituieren. Erst in letzter Zeit kann dies mit ‚bildgebenden‘ Techniken, die aus der Kybernetik übernommen und mittels Logarithmen gerechnet werden, auch visualisiert werden. Albert Müller und Wolfgang Neurath geben dazu 2012 den OeZG-Band „Historische Netzwerkanalysen“ heraus. Die Beiträge demonstrieren Netzwerke verschiedener Art, die mit je bestimmten netzwerkanalytischen Techniken hergestellt werden. Sie beziehen sich auf höchst verschiedene Themen und diverse Räume: auf den Handel mit Kunst- und Luxusgütern im 17. Jahrhundert, auf bäuerliche Gesellschaften unter der NS-Herrschaft, auf Verfolgungsstrategien der Gestapo, auf Netzwerke der Agrarökonomie und auf Partei-Eliten im sozialistischen Ungarn, die sich über ihre Netzwerke zur Jagd verabreden.

Archivierte und forschungsproduzierte Erzählungen

Wie alle Sozialwissenschaften sind auch Geschichtswissenschaften daran interessiert, möglichst Spezifisches über die Akteur*innen im jeweils untersuchten Feld zu erfahren. Zugang finden sie über die Erzählungen von Menschen, die mittels ihres autobiographischen Gedächtnis-Systems im Stande sind, sich zu erinnern, Erinnerungen zu reflektieren und sich selber und ihren Zuhörer*innen ein von ihnen als ‚stimmig‘ empfundenes Narrativ ihrer Lebensgeschichte oder eines Lebensabschnitts zu geben. Die Historischen Sozial- und Kulturwissenschaften finden zwei Zugänge: den über archivierte Lebensgeschichten, Memoiren, Tagebücher, Fotographien etc. und den über das forschende Gespräch mit lebenden Menschen.

„Lebensübersicht!“ von Anna Lechner, Blatt XVII, Archiv des Autors
Reinhard Sieder
„Lebensübersicht!“ von Anna Lechner, Blatt XVII, Archiv des Autors

Die Abbildung zeigt eine Seite aus dem Text „Lebensübersicht!“ einer 1903 geborenen Frau, die während des Ersten Weltkriegs in jugendlichem Alter mit ihrer Mutter auf Gutshöfen im Süden Wiens zur Arbeit verpflichtet ist. Texte wie dieser können, wie es hier auch geschehen ist, durch autobiographische Interviews mit der Autorin und durch fototechnische Reproduktion von Ego-Dokumenten (Fotos, Arbeitsbuch, Schulzeugnisse etc.) ergänzt werden. Autobiographische Narrative und Ego-Dokumente enthalten eine Fülle von vernetzbaren Informationen über Beziehungen und Bindungen, die Mühen der Arbeit und die Lebensentscheidungen im strukturierten und rekonstruierbaren Raum.

In den frühen 1970er Jahren wird in der Soziologie die Methode des autobiographischen, narrativen Interviews erfunden. Etwa zehn Jahre später wird sie erstmals auch von Historiker*innen für Forschungen im Zeitraum der noch lebenden Generationen eingesetzt; nach Einzelinterviews werden zuletzt auch narrative Interviews in Kleingruppen angewandt. Ohne sie wären empirische Forschungen zur Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, zum Arbeitsalltag, zu häuslichem Konsum und Familienleben, oder auch zu Flucht und Migration in der erwünschten Dichte der Informationen gar nicht möglich.

Autobiographisch-narrative und andere Typen von Interviews erzeugen forschungsgenerierte Narrative. Interpretation und Analyse der Narrative und der Ego-Dokumente und Fotographien erfordern erhebliches Methodenwissen und praktisches Training, das in den Sozial- und Kulturwissenschaften entwickelt wird. Dabei stellt sich heraus, dass die Triangulation von schriftlichen, oralen und visuellen Narrativen einer Person oder einer Personen-Gruppe am ertragreichsten ist. Die Interpretation von Fotographien ohne jegliche mündliche oder schriftliche Narrative erweist sich aufgrund der Polysemie des Bildes als sehr begrenzt.

Anna Lechner (l.) auf dem Gutenhof, Fotograph unbekannt (Aufnahme 1918), Archiv des Autors.
Reinhard Sieder
Anna Lechner (l.) auf dem Gutenhof, Fotograf unbekannt (Aufnahme 1918), Archiv des Autors

Diskurstheorie und Diskursanalyse

Bei Text-, Diskurs-, Bild-, Fernseh- und Filmanalysen kommen die rezenten Geschichtswissenschaften mit der klassischen Methodenlehre (Historik) längst nicht mehr aus. Mit der Verabschiedung eines identifikatorischen Historismus, der sein Ohr an die intentionalen Quellen legt, um die Stimme des Vaterlandes oder eines seiner Helden zu vernehmen, stellt sich die Frage, wie die rezenten Geschichtswissenschaften Texte, oder eine Serie von Texten, die in ihrer Bezogenheit aufeinander einen Diskurs bilden, analysieren und interpretieren können.

Der französische Philosoph Michel Foucault macht schon in den 1970er Jahren wegweisende Vorschläge. Und es bedarf eines philosophisch hoch gebildeten Soziologen, Hans-Georg Soeffner, um zwischen der alltagsweltlichen und der wissenschaftlichen Leseweise von Texten und Bildern zu unterscheiden und ihre Differenz für die Forschung fruchtbar zu machen. Der Kulturanthropologe Clifford Geertz verweist auch Historiker*innen auf die Textualität aller „kulturellen Systeme“ und plädiert für ihre „dichte Beschreibung“.
In zwei bis drei Jahrzehnten verändert sich die Hermeneutik (d.i. das Suchen und Finden von Sinn und Bedeutung) der Sozial- und Kulturwissenschaften.

Die ehemals geistesgeschichtliche Hermeneutik der Geschichtswissenschaften erscheint weitgehend überholt. Die OeZG ist wohl eine der ersten geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften, die dem Konzept Diskurs einen eigenen Themenband widmet: „Das Gerede vom Diskurs – Diskursanalyse und Geschichte“, erscheint 2005. Das Resümee des Herausgebers, Franz X. Eder, lautet sinngemäß: Eine Generation von vorwiegend jüngeren Historiker*innen stößt erstmals auf ein Grundproblem aller Sozial- und Kulturwissenschaften: das Verhältnis von Text und Kontext, von Struktur und Praxis, und das Verhältnis des Diskurses zu den jeweiligen Diskurssprecher*innen und zu allen Akteur*innen, die vom Diskurs in ihrer Lebensführung merklich betroffen sind.

Schreiben der Doris an das Bezirksjugendamt. Archiv des Jugendamtes Wien
Reinhard Sieder
Schreiben der Doris an das Bezirksjugendamt, Archiv des Jugendamtes Wien

In der Abbildung zeige ich den Brief einer 1954 geborenen, 17 Jahre jungen Frau und Mutter. Ende April 1971 schickt sie diesen Brief an ein Wiener Bezirksjugendamt, womit er zu einem Fragment des „Mündelakts“ wird, den das Jugendamt fortlaufend anlegt. Die als Kind in Kinderheimen und später in einem Mutter-Kind-Heim internierte junge Frau wendet sich an den (weiblichen) Berufsvormund, um zu erwirken, nach Jahren der Internierung endlich wieder einmal ihre Mutter besuchen zu dürfen. Am Ende bittet sie auch (vergeblich) um Rat für den Aufbau ihrer „Existenz“ nach der bevorstehenden Entlassung aus Internierung und Amtsvormundschaft. Die demütige Redeweise der Bittstellerin wird ihr in den Jahren der Kommunikation mit dem Jugendamt ‚in den Mund gelegt‘. Der Diskurs der Fürsorge-Erziehung reguliert das Bittschreiben der jungen Frau.

Zum Zeitpunkt der Entlassung (1975) wird der Fürsorgeakt an die zweihundert Seiten umfassen. Ich erhalte den gesamten Faszikel zum Zweck meiner Forschung über Gewalt in Kinderheimen in Kopie ausgehändigt. Er enthält psychiatrische und psychologische Gutachten, ein Gerichtsurteil, regelmäßige Berichte der Heimleitungen an das Jugendamt und eben diesen und andere Briefe der jungen Frau.

Das gegebene Beispiel zeigt Merkmale einer geschlechterspezifischen, teils privaten, teils amtlich-öffentlichen Erziehung und Disziplinierung, diesfalls wie so oft im Namen des Staates. Ich verweise auf den von Michaela Ralser und mir herausgegebenen OeZG-Band „Die Kinder des Staates“. Die Formen staatlicher, politisch-ökonomischer und privater Herrschaft, die Distinktion der Lebensführung nach Körpergeschlecht und sexueller Orientierung, der ambivalente Platz der Leiblichkeit in der kapitalistischen Gesellschaft und die wachsende Sorge der Bürger*innen um sich selbst werden zu „Querschnittsfragen“ der Geschichtswissenschaften.

Ein Fazit und eine offene Frage

Was ich hier skizziert habe, ist die sozial- und kulturwissenschaftliche Transformation der Geschichtswissenschaften im medialen Spiegel von einunddreißig Jahrgängen der OeZG. Ich könnte noch viele Beiträge anführen, die diese These belegen. Wäre aber dann für diese Zeitschrift nicht der Name „Zeitschrift für Historische Sozial- und Kulturwissenschaften“ treffender als der bestehende Name, der ja auch zu Missverständnissen Anlass gibt?

Enden will ich mit einer offenen Frage. Was kann eine gewiss nicht einfacher gewordene Geschichtswissenschaft am öffentlichen und privaten Gebrauch von ‚Geschichte‘ verändern? An fehlenden Schulkenntnissen und an zähen Mythen, oder an einer offiziellen Geschichtskultur, die herrschende Verhältnisse legitimiert? Was helfen dagegen all die travelling concepts? Haben sie eine aufklärende, kritische Kraft gegenüber den Mythen und dem ideologischen Missbrauch einer wie eh und je hypostasierten ‚Geschichte‘?