Zwei Wölfe beschnüffeln sich
Eric Dufour/Mostphotos
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Biologie

Inzucht ist weit verbreitet

Tiere paaren sich nicht mit nahen Verwandten, weil ihre Nachkommen dadurch eher krank werden: Dieser gängigen Lehrmeinung widersprechen Forscherinnen und Forscher in einer neuen, empirischen Studie. Einen grundlegenden Mechanismus gegen Inzucht gibt es demnach nicht – auch nicht beim Menschen.

Die gängige Meinung einer weitverbreiteten Inzuchtvermeidung stamme eher aus dem „menschlichen Moralurteil gegenüber Inzest“ als aus der Empirie, schreibt ein Team um John Fitzpatrick von der Universität Stockholm am Montag im Fachjournal „Nature Ecology and Evolution“.

Publikations-Bias „gewünschter“ Studien

Die Forscherinnen und Forscher, darunter auch der österreichische Biologe Alexander Kotrschal, prüften die Daten von 139 Studien über Inzuchtvermeidung aus vier Jahrzehnten Verhaltensforschung in einer Metastudie. Sie wollten wissen, ob dieses Phänomen tatsächlich so weitverbreitet ist, wie ihre Kollegen es in zahlreichen Fachartikeln und Lehrbüchern beschrieben. Die theoretischen Modelle besagen nämlich Gegenteiliges: Dass Tiere es nicht so eng sehen würden, und ihre Partnerwahl unter bestimmten Umständen recht unabhängig vom Verwandtschaftsstatus treffen.

Die Forscher fanden wenig Hinweise für Inzuchtvermeidung als generelles Phänomen, aber teils verfängliche Trends in den Studien. So gab es zum Beispiel einige Veröffentlichungen mit schwacher statistischer Aussagekraft, die für eine Inzuchtvermeidung plädierten, aber kaum aussageschwache, die dagegen sprachen. Während demnach selbst schwache Hinweise auf Inzuchtvermeidung publiziert wurden, getraute man sich dasselbe nicht, wenn die Daten eher für freie Liebe unter nah verwandten Artgenossen sprachen – also ein klassischer Publikations-Bias.

Keine generelle Tendenz …

Inzuchtvermeidung ist demnach nicht die weitverbreitete Norm, wie es generell angenommen wird, erklärte Kotrschal, der die Studie an der Universität Stockholm mit durchführte, und nun an der Wageningen Universität in den Niederlanden forscht: „Unsere Daten stützen diese Lehrmeinung nicht.“

Das heiße nicht, dass es sie gar nicht gibt. Bei Elefanten und einigen Fischarten hat man Inzuchtvermeidung freilich gefunden. Trotzdem sei hier wohl das letzte Wort noch nicht gesprochen: Generell gebe es oft Studien über die gleiche Art, von denen manche sie finden und manche sie nicht finden, so der Biologe.

Wo Inzuchtvermeidung tatsächlich eine Rolle spielt, ist sie wohl umso stärker, je näher die Individuen miteinander verwandt sind. Einer der wichtigen Faktoren, der Inzuchtvermeidung fördern kann, ist, wenn die Geschwister zusammen aufwachsen und einander gut kennen, berichten die Forscher.

… auch nicht bei Menschen

In manchen Fällen kann Inzucht sogar Vorteile bringen, so Kotrschal: Bei kleinen, schwarzen Vögeln, die nur auf den neuseeländischen Chatham-Inseln vorkommen (Chathamschnäpper), sind die sehr kleinen Populationen genetisch so stark an die Gegebenheiten auf den Inseln angepasst, dass die Nachkommen einen Nachteil haben, wenn man weniger verwandte Tiere einkreuzt.

„Wie bei anderen Tieren gibt es übrigens auch bei Menschen keinen Beleg, dass sie Inzucht vermeiden“, so Fitzpatrick in einer Aussendung. Zeigte man Versuchspersonen digital manipulierte Porträts, auf denen potenzielle Partner entweder mehr oder weniger verwandt mit ihnen aussahen, zeigten sie keine Präferenz für „nicht verwandte“ im Vergleich zu „verwandten“ Gesichtern.

Konsequenz für Zuchtprogramme

Das Ergebnis der Metastudie ist etwa für den Tierschutz wichtig. Bei Programmen in Zoos oder der freien Wildbahn, wo man die genetische Vielfalt von Arten erhalten oder steigern will, wird es oft den Tieren selbst überlassen, einen Partner auszuwählen. Man nimmt nämlich aufgrund der allgemein verbreiteten und viel gelehrten Inzuchtvermeidungs-Hypothese an, dass sie sich automatisch den am wenigsten verwandten Paarungskandidaten schnappen. Hier sollte man ein wenig Vorsicht walten lassen, so die Forscher.

„Tiere scheinen sich nicht darum zu kümmern, ob der potenzielle Sexualpartner Bruder, Schwester, Cousin oder ein nicht verwandter Artgenosse ist“, fasst es die Studienmitautorin und Zoologin Regina Vega Trejo von der Uni Stockholm zusammen.