Gruppe von Freundinnen und Freunden im Gegenlich auf einem Hügel bei Sonnenuntergang halten sich an den Händen
cppzone – stock.adobe.com
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Gehirn

Zahl der Sozialkontakte nicht vorbestimmt

Mehr als 150 Sozialkontakte schafft das menschliche Gehirn nicht – dieser geläufigen und griffigen These widersprechen nun Forscher. Die Zahl, die auf der Beobachtung von Primaten basiert, sei relativ willkürlich gewählt und ihre Berechnung nicht nachzuvollziehen.

Ursprüngliche Dorfgemeinschaften oder steinzeitliche Jäger- und Sammlergemeinschaften gelten als Beweis für die Dunbar-Zahl, wonach ein Mensch maximal etwa 150 soziale Beziehungen unterhalten könne. Mehr schafft sein Gehirn nicht. Diese These formulierte Robin Dunbar von der University of Oxford in den 1990er Jahren.

Zuvor hatte der Psychologe soziale Netzwerke bei Primaten untersucht und festgestellt, dass die Gruppengröße mit der Gehirngröße zusammenhängt. Je mehr Neuronen sich im Neocortex, also im jüngsten Teil der Großhirnrinde der jeweiligen Art befinden, umso größer sind die Sozialverbände, in denen die Tiere leben. Vereinfacht ausgedrückt könnte man sagen: Mehr Artgenossen können sie sich einfach nicht merken.

Zwei Rhesusaffen
Johan Lind/N
Zwei Rhesusaffen

Diesen Zusammenhang hat er dann für Menschen hochgerechnet und kam so auf ungefähr 150 Sozialkontakte. Seitdem wird diese Zahl als mehr oder weniger naturgegeben akzeptiert und gern von Forschung und Medien zitiert. Manche Behörden und Unternehmen berücksichtigen das Limit sogar bei der Organisation von Standorten und Büros.

Große Schwankungsbreiten

Ein schwedisches Team um Patrik Lindenfors von der Universität Stockholm äußert nun Zweifel an der vermeintlich naturgegebenen Obergrenze für menschlichen Beziehungen. Für ihre soeben in den „Biology Letters“ erschienene Studie haben die Forscher versucht, Dunbars Hochrechnung von Primaten auf den Menschen nachzuvollziehen. Mit verschiedenen statistischen Methoden haben sie die für das menschliche Gehirn angemessene Gruppengröße berechnet und kamen auf ganz andere Zahlen als der britische Psychologe.

Das Ergebnis hänge unter anderem von der Berechnungsmethode ab, schreiben die Studienautoren. Einmal kamen sie so auf einen Durchschnittswert von etwa 69 Gruppenmitgliedern, ein anderes Mal auf etwa 107 – also in beiden Fällen deutlich weniger als 150. Noch problematischer als dieser abweichende Wert sind aus Sicht der schwedischen Forscher aber die enormen Schwankungsbreiten: in ersten Fall liegt sie zwischen 3,9 und 508,2, im zweiten zwischen 0,3 und 336,3 – das heißt, die theoretische Obergrenze für menschliche Gruppen läge somit deutlich über den magischen Wert von 150. Auch andere Berechnungsmethoden ergaben keine Zahl, die in Dunbars Modell passt. „Eine genauere Schätzung ist mit Hilfe der verfügbaren Daten und Methoden nicht möglich“, meint dazu Koautor Andreas Wartel in einer Aussendung.

Falsche Grundannahmen

Auch Lindenfors betont, dass das theoretische Fundament von Dunbars Zahl sehr wacklig sei. In seinen Augen gehen schon die zugrundeliegenden Annahmen in die falsche Richtung: „Das Gehirn anderer Primaten geht anders mit Informationen um als das menschliche Gehirn. Und tierische Gemeinschaften lassen sich durch andere, nicht unbedingt kognitive Faktoren erklären, etwa die Art, wie sie sich ernähren oder wer ihre Feinde sind.“

Außerdem leben Menschen in ganz unterschiedlich großen Verbänden, was wiederum nicht nur mit individuellen, sondern auch sozialen und kulturellen Voraussetzungen zu tun habe. Vor allem das kulturelle Erbe sei entscheidend dafür, wie Menschen handeln und wie sie denken, erklärt Koautor Johan Lind: „Ob wir Schach spielen können, gern wandern gehen und in welchen sozialen Netzwerken wir leben – Kultur beeinflusst alles. Und genauso wie ein Mensch viele Dezimalstellen der Zahl Pi auswendig lernen kann, kann unser Hirn lernen, mehr Sozialkontakte zu haben.“ Wie die Studienautoren schreiben, spreche eigentlich nichts für eine allgemeingültige Obergrenze bei menschlichen Beziehungen.