Künstlerische Darstellung: menschliches Gehirn mit Computerchips
Prostock-studio – stock.adobe.co
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„Mindwriting“

Maschine übersetzt Hirnströme in Texte

Forscher der Stanford University haben eine Neuro-Schnittstelle entwickelt, die Buchstaben aus den Hirnströmen auslesen kann. Die „Mindwriting“-Technologie könnte vollständig gelähmten Patientinnen und Patienten wieder ihre Sprache zurückgeben.

1963 wurde beim damals 21-jährigen Stephen Hawking amyotrophe Lateralsklerose diagnostiziert. Die unheilbare Erkrankung führt zu einer Schädigung der Muskelnerven, fortschreitender Muskelschwäche und im Endstadium zur Lähmung der Atemmuskulatur. Laut Prognose der Ärzte hätte der britische Physiker nur noch ein paar Jahre zu leben gehabt, was sich zum Glück als Fehleinschätzung erwies: Hawking wurde 76 Jahre alt, in den letzten Jahren seines Lebens war er allerdings vollständig gelähmt – Augenbewegungen waren für ihn der einzige Weg, sich aus dem Gefängnis des eigenen Körpers zu befreien und mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten.

Physiker Stephen Hawking im Rollstuhl
TIMOTHY A. CLARY/AFP
Hawking bei einer Pressekonferenz im Jahr 2016

Hawking bediente mit einem sogenannten Eye-Tracker die Tastatur eines Computers, das ging zwar nur sehr langsam vor sich, aber immerhin: Es funktionierte. „Stephen wurde sehr geschickt darin, viel Bedeutung in wenigen Worten zu verpacken. Wenn wir neben ihm saßen, starrten wir auf den Bildschirm seines Sprachcomputers, um herauszufinden, was er wohl als nächstes sagen würde“, erinnert sich Hawkings Freund und Physikerkollege Malcolm J. Perry. „Und fast immer lagen wir falsch. Stephen sorgte gerne für Überraschungen.“

Sprache der Neuronen entziffert

Eine neue Erfindung hätte es Hawking wohl bedeutend einfacher gemacht, sich anderen mitzuteilen. Die Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer, die nun Wissenschaftler um Krishna V. Shenoy vorstellen, spart den Umweg über die Augen aus, sie setzt direkt bei den Hirnströmen an und übersetzt diese in Buchstaben, letztlich: in einen geschriebenen Text. Und zwar in einem Tempo, das dem Tippen einer SMS am Handy kaum nachsteht.

Im Schnittfeld von Sprache, Neuronen und Computer kann der Neurowissenschaftler von der Stanford University in Kalifornien bereits einige hochkarätige Veröffentlichungen vorweisen. Shenoy und sein Team haben in den letzten Jahren etwa versucht, die mit Sprache assoziierten Hirnströme direkt auszulesen und sie haben auch einige Erfahrung mit Gehirnimplantaten. 2017 gelang es ihnen, Probanden mittels einer Neuro-Schnittstelle an einen Computer „anzuschließen“ und eine Verbindung zu einer Bildschirmtastatur herzustellen. Die Probanden bedienten die Tastatur ganz normal mit einem Cursor, freilich nicht direkt mit der Hand, sondern mit der Vorstellung von Handbewegungen, die sich wiederum durch charakteristische Erregungen im Gehirn zu erkennen gibt.

Abkürzung im Signalweg

Dieser Erfolg brachte Shenoys Mitarbeiter Frank Willett auf die Idee, einen noch direkteren Weg zu probieren, ohne dem Umweg über Cursor und Tastatur. „Wir haben gelernt, dass die Fähigkeit zu feinen Bewegungen im Gehirn erhalten bleibt, auch wenn der Körper diese Bewegungen nicht mehr ausführen kann“, sagt Willett.

„Mindwriting“ nennen die Forscher ihr neues Konzept: Im Kern handelt es sich dabei um eine Maschine, die die bloße Vorstellung, mit der Hand zu schreiben, in reale Schrift übersetzt. Dass das möglich ist, zeigt ein Versuch mit einem 65 Jahre alten, vom Kopf abwärts gelähmten Probanden, in der Studie „T5“ genannt: Er schrieb im Geiste Sätze auf ein Blatt Papier (zum Beispiel: „I interrupted, unable to keep silent“) und speiste mit seinen Hirnströmen ein lernfähiges Computerprogramm, das die Signale dann als Buchstaben interpretierte.

90 Buchstaben pro Minute

Wie Shenoy und Willett in ihrer Studie schreiben, fiel der Künstlichen Intelligenz die Interpretation überraschend leicht, die typische Form von Buchstaben in Schreibschrift und die damit verbundenen Bewegungen erzeugen im Gehirn offenbar gut unterscheidbare Erregungsmuster. Dementsprechend hoch war die Trefferrate von 94,1 Prozent, mit Autokorrektur (ähnlich wie jene, die unsereins am Handy benutzt) lag sie sogar bei 99,1 Prozent.

Sehen lassen kann sich auch das Tempo. T5 brachte mit seinen Gedanken 90 Buchstaben pro Minute zu Blatt bzw. auf den Bildschirm, „das ist durchaus vergleichbar Tippgeschwindigkeit, die Menschen ohne Behinderung auf dem Smartphone hinkriegen“, sagt Jaimie Henderson, ein an der Studie beteiligter Neurochirurg. Und ums Tempo, so Henderson, gehe es letztlich. „Unser Ziel ist, dass Menschen durch Text kommunizieren können.“

Noch handelt es sich bei der Hirn-Computer-Schnittstelle der Stanford University um einen Prototypen, gleichwohl besteht Grund zur Hoffnung, dass sich die Fortschritte im Labor rasch in den Alltag übersetzen werden. Das zeigt etwa das Beispiel Stephen Hawking. Als der britische Physiker erstmals Texte per Eye-Tracker in seinen Computer tippte, war das noch brandneue Technologie, mittlerweile gibt es solche Geräte längst zu kaufen. Das mit dieser Methode mögliche Schreibtempo liegt übrigens deutlich unter dem nun erreichten Wert, bei 47 Buchstaben pro Minute.