Eine der letzten Aufnahmen von Charles Darwin (Aufnahme ungefähr von 1878)
dpa/RICHARD MILNER ARCHIVE/A2800 epa Richard Milner / Handout
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„Abstammung des Menschen“

Darwins rassistische Thesen

Vor 150 Jahren veröffentlichte Charles Darwin die „Die Abstammung des Menschen“. Der Text lieferte die Grundlage für die moderne Anthropologie, enthält allerdings auch allerlei rassistische und misogyne Passagen. Eine Neubewertung.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass just ein studierter Theologe den endgültigen Bruch mit dem christlichen Schöpfungsmythos herbeigeführt hat. Die belebte Natur als Ergebnis evolutionären Wandels, einzig und allein hervorgebracht durch die Mechanik „erblicher Variation“ und „natürlicher Auslese“: Das war das Weltbild, das Darwin 1859 in seinem Hauptwerk „Über die Entstehung der Arten“ formulierte – und damit den tradierten Erklärungsanspruch der Bibel in Frage stellte.

„Mein Urteil schwankt…“

Für ihn persönlich war das kein unproblematisches Unterfangen, sozialisiert in einer Unitarier-Gemeinde, verheiratet mit seiner Cousine Emma, einer frommen Christin, suchte Darwin jahrzehntelang nach einem Kompromiss zwischen Naturforschung und Glaube. „(Mein) Urteil schwankt oft … Selbst in meinem stärksten Schwanken war ich nie ein Atheist in dem Sinne, dass ich die Existenz Gottes geleugnet hätte“, notierte er 1879 in einem Brief an den Missionar John Fordyce – was in der Rückschau so eindeutig erscheint, war in Wahrheit ein Ringen mit den von ihm in die Welt gesetzten Ideen. Sein Werk war von Ambivalenzen durchzogen. Auch dort, wo es um die Bewertung seiner Mitmenschen ging.

Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl (engl. The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex): Titelseite der 1. englischen Auflage.
gemeinfrei
Darwins „Abstammung des Menschen“, 1. Auflage 1871

Darwin war zwar nicht der erste, der die Natur aus dem Blickwinkel der Evolution betrachtet hat; aber er war der erste, der überzeugend begründen konnte, warum sich die Arten wandeln. Das schließt konsequenterweise den Menschen mit ein, über den Darwin 1859 bloß zu sagen wusste: „Licht wird fallen auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte.“ Zwölf Jahre später hatte das Orakeln ein Ende, da wandte Darwin seine Evolutionstheorie auch auf unsere Art an.

Der Mensch als Tier

Die „Abstammung des Menschen“ gilt als der zweite große Wurf des englischen Naturforschers, darin formulierte er einige Einsichten, die zur damaligen Zeit revolutionär waren und bis heute Bestand haben. Etwa die Überzeugung, dass der Mensch ein ganz normales Säugetier sei, auch in Hinblick auf seine geistigen Fähigkeiten. „Wie groß auch der Unterschied zwischen den Seelen der Menschen und der höheren Tiere sein mag, er ist doch nur ein gradueller und kein prinzipieller“, heißt es etwa in Kapitel vier der „Abstammung“.

Weitsicht bewies Darwin auch mit seiner Vermutung, „dass Afrika früher von jetzt ausgestorbenen Affenarten bewohnt war, die mit dem Gorilla und Schimpansen verwandt waren … und unsere ältesten Vorfahren auf dem afrikanischen Festland gelebt haben.“ Das war, wie ein Autorenteam um den Verhaltensforscher Frans de Waal diese Woche im Fachblatt „Science“ schreibt, zur damaligen Zeit keineswegs evident. Darwins Zeitgenossen gingen noch davon aus, dass die Wiege der Menschheit in Europa liege.

„Barbaren“ und „niedere Rassen“

Gleichwohl finden sich in der „Abstammung“ auch einige Passagen, die in seltsamem Kontrast zu seiner ansonsten luziden Gedankenführung stehen. Obwohl Darwin strikt gegen die Sklaverei war und sie sogar als „Verbrechen“ bezeichnete, hing er immer noch der Idee an, dass es so etwas wie „höhere“ und „niedere Rassen“, „zivilisierte Völker“ und „Barbaren“ gebe. Und zog diese Stufenleiter der moralischen und intellektuellen Befähigung heran, um den Kolonialismus zu rechtfertigen. Für ihn war klar, „dass ein Volk, das die größte Zahl hochintelligenter, energischer, tapferer, patriotischer, gemeinnütziger Menschen hervorbringt, über weniger begünstigte Nationen das Übergewicht erlangt“.

Charles Darwin im Jahr 1855
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Darwin im Jahr 1855

Eine naturgegebene Überlegenheit machte Darwin auch zwischen Männern und Frauen aus. „Der hauptsächlichste Unterschied in den intellektuellen Kräften der beiden Geschlechter zeigt sich darin, dass der Mann zu einer größeren Höhe in allem, was er nur immer anfängt, gelangt, als zu welcher sich die Frau erheben kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Einbildungskraft, oder bloß den Gebrauch der Sinne und der Hände erfordern.“ Auf den Gedanken, dass der Männern vorbehaltene Zugang zu höherer Bildung Spiegel seines eigenen (Vor)Urteils sein könnte, kam er nicht.

Wie damit umgehen?

Wissenschaftlich gesehen könnte man solche Bemerkungen schlicht als Irrweg bezeichnen, längst widerlegt von den Befunden der Anthropologie, Neurobiologie und Psychologie. Sowie als Beleg dafür, dass Darwin, der im zoologischen und botanischen Fach fraglos ein solider Empiriker war, es mit seinem methodischen Anspruch auf anderen Gebieten offenbar nicht so genau nahm.

Aber wie bewertet man das in der Rückschau? Kann bzw. sollte man ihn als Rassisten oder Misogyniker bezeichnen – und falls ja: Würde das die Wertschätzung seines restlichen Werkes schmälern? Der Anthropologe Agustin Fuentes von der Princeton University sieht zwischen beidem, Kritik und Würdigung, keinen Widerspruch. Im Gegenteil: „Wenn wir dieses Buch unkritisch verehren, entgeht uns seine wahre Bedeutung.“

Anthropologe Agustin Fuentes
Princeton University

Zur Person

Agustin Fuentes lehrt und forscht an der Princeton University in den Fächern Anthropologie, Primatologie und Humanevolution.

science.ORF.at: Herr Fuentes, wie wichtig ist die „Abstammung des Menschen“ 150 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung?

Agustin Fuentes: Extrem wichtig, die „Abstammung“ gehört wohl zu den originellsten Beiträgen, die es je in der modernen Literatur zur Evolution des Menschen gab. Aber es handelt sich auch um ein sehr problematisches Buch.

Empfehlen Sie das Buch Ihren Studentinnen und Studenten?

Fuentes: Ich halte es für keine schlechte Idee, das Original zu lesen. Aber empfehlen würde ich ein anderes Buch: „A Most Interesting Problem". Untertitel: „What Darwin’s Descent of Man Got Right and Wrong about Human Evolution“. Darin kann man Darwin im Original nachlesen – und das, was zeitgenössische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus den jeweiligen Fächern zu all diesen Themen zu sagen haben. Ich halte den Band für einen gelungenen Ratgeber, der uns zeigt, wo Darwin wichtige Einsichten geliefert hat und wo er einfach unrecht hatte.

Was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Neuerungen, die bis heute Bestand haben?

Fuentes: Ich möchte betonen, dass man diesen Text getrennt vom „Ursprung der Arten“ betrachten muss, in dem Darwin gezeigt hat, wie Evolution funktioniert. Das war grundlegend. In der „Abstammung“ sagte Darwin dann: Ok, und jetzt rede ich über den Menschen und seine Evolution. An diesem Text sind drei Dinge faszinierend, erstens: Darwin betrachtet den Menschen als Teil des Tierreichs. Er schreibt, wir mögen speziell und für uns selbst interessant sein, aber wisst ihr was? Wir sind dennoch Tiere. Die zweite Einsicht lautet: Wenn wir das Tier Mensch verstehen wollen, müssen wir auch andere Tierarten untersuchen. Das halte ich für ebenso wichtig. Darwin macht hier einen großartigen Job, er lädt die Leser ein, sich mit der Komplexität anderer Tierarten zu beschäftigen. Und drittens betont er, dass wir, um uns selbst zu verstehen, auch unsere Evolutionsgeschichte betrachten müssen. Hier verweist er auf Afrika sowie auf die Kooperation und die Kultur des Menschen, die als zentrale Themen wieder und wieder erscheinen.

Sie schreiben im aktuellen Editorial von „Science“: Darwins „Abstammung“ ist ein Text, „von dem man einiges lernen kann – den man aber nicht verehren sollte“. Was heißt das konkret?

Fuentes: Wie gesagt, es handelt sich um einen wichtigen Text, der uns grundlegende Einsichten gebracht hat. Aber wir sollten das Buch nicht auf ein Podest stellen und sagen: Darwin hatte in allem recht. Wir müssen das in historischen Kontext setzen, wir müssen uns ansehen, welche Daten Darwin zur Verfügung hatte, wie er sie interpretiert hat – und wo er falsch lag. Manche Leute meinen, man könne den Text nicht kritisieren. Natürlich kann man das! Wissenschaft ist immer in Bewegung. Wenn wir dieses Buch versteinern und unkritisch verehren, entgeht uns seine wahre Bedeutung.

Wo gibt es Anlass zu Kritik?

Fuentes: Die harte Wahrheit lautet: Darwin war ein Rassist. Er war der Ansicht, dass die Menschen aus Afrika, Australien, Südamerika und Europa alle von gemeinsamen Vorfahren abstammen. Aber er war auch der Ansicht, dass ihre Fähigkeiten in eine Rangfolge zu stellen sind. Er sah die Europäer als fähiger und sogar als menschlicher an als die anderen Gruppen. Und die afrikanischen Populationen reihte er ganz am Ende ein. Dem liegt eine Ideologie zugrunde, die von einer reduzierten Intelligenz und Überlebensfähigkeit der Nichteuropäer ausgeht. Interessanterweise hatte er ähnliche Ansichten über Frauen. Er hielt Frauen für wichtig, weil sie – wie bei anderen Säugetieren – den Nachwuchs gebären. Aber Intelligenz, Innovation und Kreativität rechnete er den Männern zu. Das sind natürlich komplett irrige Ansichten, die durch Daten und unser gesamtes biologisches Wissen widerlegt wurden. Darwin lag falsch, was Rassen und die Geschlechter betrifft. Aber bei anderen Dingen hatte er recht.

Zu betonen, dass er in dieser Hinsicht irrte, ist aber nicht das Gleiche, wie zu sagen: Er war Rassist. Das macht einen Unterschied, oder?

Fuentes: Nein, macht es nicht. Er war der Ansicht, dass es einen Unterschied zwischen Rassen gibt und brachte diese Unterschiede in eine Rangfolge. Menschen, die nicht seiner Rasse angehörten, stufte er niedriger ein als seine eigene. Das ist definitionsgemäß rassistisch. Übrigens hatte er für diese Rangfolge keine Daten zur Verfügung – und das stand bemerkenswerterweise auch im Widerspruch zu seinen persönlichen Lebenserfahrungen: Darwin lernte eine Menge von John Edmonstone, einem Naturforscher afrikanischer Herkunft. Darwin kam in Kontakt mit Indigenen aus Südamerika und anderen Regionen. Tatsächlich schrieb er wundervolle Dinge über Menschen, die nicht so waren wie er selbst. Und dennoch: Er nahm eine Reihung vor und blieb dabei.

Ein mögliches Gegenargument lautet: Darwin als Rassisten zu bezeichnen ist unhistorisch, weil im Viktorianischen Zeitalter vermutlich die meisten solche Ansichten hatten. Andererseits: Es gab sehr wohl Zeitgenossen, die die Gleichwertigkeit von Menschen unabhängig von ihrer Herkunft betont haben. Zum Beispiel Alfred Russell Wallace und Richard Owen.

Fuentes: Das erste Argument regt mich auf, denn es stimmt nicht. Es war eben nicht jeder Rassist zur damaligen Zeit, wie Sie richtig sagen. Darwin forderte die Überzeugungen seiner Zeitgenossen auf so vielen Gebieten heraus, er war nicht wie alle anderen – er war viel klüger als die meisten. Darwin hätte zweifelsohne die Kapazitäten gehabt, um auch in dieser Hinsicht seine Meinung zu ändern. Damit will ich nicht sagen, dass er ein hasserfüllter oder böser Mensch war. Aber er glaubte an die Reihenfolge von Rassen, obwohl er dafür keine Daten zur Verfügung hatte. Das ist der entscheidende Punkt an der Geschichte.

In den USA ist der Anti-Darwinismus in der Bildungsdebatte relativ einflussreich. Besteht die Gefahr, dass Ihre Kritik instrumentalisiert werden könnte – etwa von den Kreationisten?

Fuentes: Davor habe ich keine Angst. Ich denke, der Schaden wäre größer, wenn wir Darwin nicht in all seinen Schattierungen darstellen würden: als Wissenschaftler, als Engländer, Vater und Ehemann, auch als Taubenliebhaber, er war nämlich fasizinert von Tauben – all diese Dinge machen ihn menschlich. All diese Betrachtungsweisen machen das Bild von ihm reichhaltiger, glaubhafter und wissenschaftlich korrekter. Ich denke, das muss man schon den Kindern in der Grundschule beibringen. Wenn wir nicht aus der Geschichte lernen, sind wir dazu verurteilt, sie zu wiederholen.