Mikrophon bei einer Pressekonferenz
wellphoto – stock.adobe.com
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Kommunikation

Wissenschaft als Belehrung

Wissenschaft ist selten so gefragt gewesen: Seit Beginn der CoV-Pandemie erklärten Virologie, Epidemiologie und Statistik tagtäglich komplexe und mitunter widersprüchliche Inhalte. Neben Lob gab es auch viel Kritik. Wie man Wissenschaft vermitteln soll, wird seit Jahrzehnten diskutiert, schreibt der Sozialwissenschaftler Franz Seifert in einem Gastbeitrag. In der Pandemie sei der belehrende Ton wieder dominant geworden.

Die von der CoV-Krise erzeugten, enormen sozialen Spannungen und Kontroversen führen vor Augen, wie entscheidend die Akzeptanz der Wissenschaft sein kann. In der gegenwärtigen Ausnahmesituation beruht die Legitimität so drastischer Maßnahmen wie Lockdowns, Verhaltensregeln oder Impfkampagnen wesentlich darauf, dass sie glaubhaft auf dem besten verfügbaren Wissen beruhen. Wird die Befolgung verweigert, weil „das ja gar nicht stimmt“, kann das Menschenleben gefährden.

Im jetzigen Stadium der Pandemie ist es die befürchtete Impfverweigerung, die als Problem thematisiert wird. (Obwohl der Impfstoffmangel bisher schwerer wiegt.) Wollen sich zu wenige impfen lassen, könnte die ersehnte Herdenimmunität ausbleiben. Die Liste ähnlicher Akzeptanzdefizite lässt sich fortsetzen: CoV-Leugner, Querdenker, Verschwörungstheorien, die Infodemie an Fake News etc.

Franz Seifert
privat

Über den Autor

Franz Seifert ist Biologe und Sozialwissenschaftler. Er beschäftigt sich unter anderem mit Risikotechnologien und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Und so schlägt die Stunde der Wissenschaftskommunikation. Regierungen fordern Aufklärungskampagnen. Die Meinungsforschung erhebt deren Wirkung. Ehrungen gehen an breitenwirksame Wissenschaftsvermittler. Neue Medienformate wie Blogs, Podcasts, Youtube-Kanäle und Shows wuchern. Einschlägige Professuren werden eingerichtet. Selten war der Ruf nach effektiver Wissenschaftsvermittlung glaubwürdiger und lauter.

Doch ist diese Forderung alles andere als neu. Tatsächlich steht das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit seit Jahrzehnten auf der politischen Agenda. Ich zeige im Folgenden, welche Wandlungen das Verständnis von Wissenschaftskommunikation durchgemacht hat. Stets waren diese eine Reaktion auf soziale Kontroversen wie auch Resultate eines intellektuellen Ringens um die Deutung dieser Kontroversen.

Anfänge in Großbritannien

Auch wenn die Anfänge der akademischen Beschäftigung mit Wissenschaftskommunikation vielfältig sind, setzt man deren Beginn meist Mitte der 1980er Jahre in Großbritannien an. Denn in dem von der ehrwürdigen Royal Society vorgelegten, einflussreichen „Bodmer Report" („The Public Understanding of Science“) wurde der damals von den britischen Forschungseliten beklagte Verfall wissenschaftlicher Autorität erstmals zum gesellschaftspolitischen Problem erklärt.

Der Report markiert den Beginn einer Kampagne zur Aufwertung der bisher in der Fachwelt als unseriös verschmähten Populärwissenschaft. Dazu wurde aber auch die sozialwissenschaftliche Forschung über Wissenschaftskommunikation ausgebaut. Meinungsforschung, Sozialpsychologie und Soziologie sollten ergründen, unter welchen Bedingungen Wissenschaft ihre Inhalte erfolgreich darstellt oder ihr dies misslingt. Und dies, wie der Titel „The Public Understanding of Science“ schon anzeigt, unter der impliziten Annahme, dass die Ablehnung wissenschaftlich anerkannter Positionen ihre Ursache wohl nur im Nicht- und Missverstehen der Wissenschaft haben könne.

Unverständnis als Ursache?

Doch genau diese Annahme geriet in den frühen 1990ern unter Beschuss. Einerseits konnte die mit Umfragedatensätzen operierende Forschung nicht bestätigen, dass Misstrauen gegen anerkannte wissenschaftliche Positionen eine Folge von „wissenschaftlichem Analphabetismus“ sei. Im Gegenteil, teils fand man Vorbehalte gegen die Wissenschaft gerade unter wissenschaftlich Gebildeten.

Noch einflussreicher erwies sich aber die radikalere, vom Sozialwissenschaftler Brian Wynne lancierte Kritik an der Idee, dass Akzeptanzprobleme der Wissenschaft auf Informationsmangel oder die mangelnde Auffassungsgabe der Bevölkerung zurückgingen. Dieses von ihm angeprangerte „Defizitmodell“ sei nichts anderes als die Projektion eines sich bedroht fühlenden Wissenschafts- und Politestablishments.

Statt nach den Verständnisdefiziten der Bevölkerung zu fahnden, so Wynne, solle man die Hintergründe ihrer Ablehnung – Machtgefälle und Wertekonflikte – und auch das genuine Wissen der Laien ergründen. So nämlich würde man erkennen, dass deren Widerstände legitim und ihr eigenes „Laienwissen“ dem der ausgewiesenen Experten oft ebenbürtig sei. Statt weiterhin von der Professorenkanzel aus die Öffentlichkeit zu belehren, sollte Wissenschaft ihre eigenen impliziten Interessen reflektieren und den ehrlichen Dialog mit ihren Kritikern suchen.

Die Vertrauenskrisen der 1990er Jahre

Was? Alle wissen genug? Nur irgendwie anders? Unwissenheit und Fehlinformation gibt’s gar nicht? Wynne’s Kritik ist leicht zu missverstehen. Klarer wird sie, wenn man an Modernisierungskontroversen wie jene um die Kernenergie denkt. Üblicherweise stehen dabei Allianzen aus Behörden, Industrien und Experten unstrukturierten Protestöffentlichkeiten gegenüber, deren Argumente als irrational und unwissenschaftlich abgetan werden.

Die Kritik am Defizitmodell ist also eine Macht- und Systemkritik. Mittlerweile gehört sie zu den einflussreichsten Positionen der akademischen Debatte zum Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Diese wiederum hatte in den vergangenen zwei Jahrzehnten erheblichen Einfluss auf den einschlägigen politischen Diskurs. Wie kam es dazu?

Heute ist man sich einig, dass die Vertrauenskrisen der 1990er, allen voran die BSE-Krise und in der Folge die Anti-Gentechnikbewegung, zu Verunsicherung unter wissenschafts- und technologiepolitischen Eliten führten. Offenbar hatte man im Umgang mit der Öffentlichkeit etwas falsch gemacht. Aber was? Und wie ließen sich solche Fiaskos in Zukunft vermeiden?

Die rettende Metapher: Dialog auf Augenhöhe

Um die Jahrtausendwende fiel Kritik an konventionellem Verständnis von Wissenschaftspolitik und Wissenschaftskommunikation auf fruchtbaren Boden. Man wollte Lehren ziehen. Kritische Außenseiterpositionen wie die Wynnes bewegten sich in Richtung Mainstream. Einen Wendepunkt in Großbritannien bildete im Jahr 2000 der „House of Lords“-Bericht „Science and Society“, der die Wissenschaft dazu aufrief, den Dialog mit der Öffentlichkeit auf Augenhöhe zu suchen.

Virologe Christian Drosten bei einer Pressekonferenz
TOBIAS SCHWARZ/AFP
Der deutsche Virologe ist seit Beginn der Pandemie im öffentlichen Dauereinsatz und hat sich damit nicht nur Freunde gemacht.

Im folgenden Jahrzehnt wurde „public engagement“, was man mit Wissenschaftsdialog übersetzen könnte, zu einem Schlüsselbegriff der britischen Innovationspolitik. Zu verstehen ist darunter eine Vielzahl dialogartiger Formate zur Einbeziehung der Öffentlichkeit. Dialog ist hier als Metapher zu verstehen. Schließlich kann man unmöglich mit der gesamten Bevölkerung in Dialog treten. Dazu müsste jede/r einzelne ausgiebig mit allen anderen Argumente austauschen können. Dialog zeigt demnach eine politische Absicht an, nämlich die Bereitschaft Argumente, die von außerhalb der etablierten kleinen Entscheidungszirkel kommen, ernst zu nehmen.

Tritt man nur früh genug in Dialog über technologische Entwicklungen, so die neue Lehre, könnte man wissenschaftsfeindliche Widerstände der Öffentlichkeit in Zukunft vermeiden. Als man zu Beginn des Jahrtausends etwa begann, von Nanotechnologie zu sprechen, wurde an diesem Themenfeld beispielhaft Praxis und Theorie von Dialog und Beteiligung durchexerziert. Der Grund: Gerade in diesem massiv geförderten Technologiefeld befürchtete man (letztlich aufgrund der hohen Investition) einen Rückschlag wie den gegen die Gentechnik.

Europäische Dimension

Waren dialogzentrierte Formen der Wissenschafts- und Technologiepolitik zuvor von skandinavischen Ländern propagiert worden, wurde nun Großbritannien zum Vorreiter. Bald weitete sich die Dialogwelle auf andere EU-Länder aus. Eine eigens dazu geschaffene Abteilung der Europäischen Kommission gewann stetig an Bedeutung, auch für die Formulierung der EU-Forschungsrahmenprogramme, die „public engagement“ forderten und förderten. 2014 bemerkte der Herausgeber des tonangebenden Journals “The Public Understanding of Science“, dass die wohl kennzeichnendste Entwicklung der vergangenen 20 Jahren Forschung der Übergang von „public understanding“ zu „public engagement“ war.

Die neue Dialogwelle brachte einen Boom für die Sozialwissenschaften bzw. manche ihrer Schulen und Repräsentanten, die sich als Berater wissenschafts- und technologiepolitischer Entscheidungseliten positionieren konnten. Mit der einstmals radikalen Forderung nach Öffnung und Dialog lief man dort offene Türen ein. Heute durchlaufen neue Technologien selbstverständlich öffentliche Dialogprogramme. Gegenwärtig ist das etwa bei Künstlicher Intelligenz der Fall.

Die neue Ära des Dialogs zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit brachte vor allem neue Benimmregeln für die Wissenschaft. Für den Dialog auf Augenhöhe gilt es schließlich Besserwisserei und Überlegenheitsdünkel abzulegen und nicht nur ehrlich zu sprechen, sondern auch ehrlich zuzuhören. Das bisher für das Selbstverständnis der Wissenschaft so grundlegende Defizitmodell wurde zum Tabu erklärt.

Alles anders?

Ob und inwieweit die Ächtung des Defizitmodells viel mehr als eine innerakademische und rhetorische war, ist bis heute indes fraglich. Zumindest häufen sich die Befunde, wonach das Defizitmodell niemals wirklich aus dem Selbstverständnis der Wissenschaft gewichen ist. Auch wird kaum ersichtlich, ob und wie die vielen Wissenschaftsdialoge an breitere Öffentlichkeiten gelangen oder substantielle Wirkung auf Entscheidungsprozesse haben.

Die tonangebenden innovationspolitischen Eliten dürften nach wie vor primär von Wettbewerbsimperativen und industriellen Zukunftsvisionen motiviert sein, weniger von Öffentlichkeitsdialogen. Auch ist die klassische, lineare Wissenschaftskommunikation wie eh und je vorherrschend und beliebt. Wenn Wissenschaft nicht kontrovers oder politisiert ist (die Erforschung des Mars, das Sozialleben der Nacktmulle, etc.), will das Publikum meist nur verlässlich, verständlich und amüsant Sachverhalte erklärt bekommen.

Gewiss, zu großen Protestwellen gegen wissenschaftlich legitimierte Projekte ist es bisher nicht mehr gekommen. Der gefürchtete Widerstand gegen die Nanotechnologie etwa blieb aus. Das hat aber weniger mit den vielen Wissenschaftsdialogen als damit zu tun, dass der förderungspolitische Hype um die Nanotechnologie kaum Ansatzpunkte für Proteste lieferte. Andere Technologien, wie etwa 5G-Netze, provozieren durchaus Widerstände, die aber punktuell und wirkungslos bleiben.

Unerwartete Problemlagen

Man sollte politische Leitbilder der Wissenschaftskommunikation also nicht mit deren Realität verwechseln. Die Rückschau zeigt, wie diese Leitbilder mit akademischen und politischen Diskursen und dem Zeitgeschehen verflochten sind. Doch dieses überrascht bekanntlich immer wieder mit Unerwartetem.

Das dargestellte Umdenken vollzog sich etwa vor dem Hintergrund drohender Anti-Technikproteste, doch erweisen sich solche Proteste heute nicht als vordringliches Problem. Fälle massive Abwehr akzeptierter wissenschaftlicher Positionen häufen sich in anderen Bereichen. Schon vor der CoV-Pandemie wurde dies in Donald Trumps überaus populären, „postfaktischen“ Politikstil manifest.

Die neuen Widerstandsfronten passen nicht so recht in das Gerechtigkeitsschema, das zur Dialogwende führte. Wohlgemerkt, auch sie beinhalten oft zentral Machtkritik. Oft sind sie mit Ressentiments gegen „die da oben“ verbunden, die „Corona-Diktatur“, die Eliten, deren Entourage abhängiger Experten und weltfremder, akademischen Zuträger. Auf der anderen Seite bedient der Mediendiskurs dann gerne das Defizitmodell. So werden CoV-Proteste immer wieder summarisch mit „Verschwörungstheorien“ gleichgesetzt, und so ein viel weiteres Spektrum diskussionswürdiger ablehnender Positionen als irrational abgetan.

Im Grunde trifft Wynnes Kritik also nach wir vor zu, nur ist die Ausrichtung wichtiger Protestbewegungen eine andere geworden, tendiert etwa oft nach rechts oder präferiert in der Pandemie eine „Laissez-faire“-Politik wie die Trumps und Bolsonaros, die hohe Opferzahlen unter den schwächsten Gruppen zugunsten wirtschaftlicher Interessen in Kauf nimmt.

Kein Universalmodell

Zu bezweifeln ist auch, ob im Zusammenhang mit CoV-Maßnahmen ein breiter „Dialog auf Augenhöhe“ überhaupt möglich gewesen wäre. Die Notwendigkeit schnell und auf Basis besten Wissens zu handeln sowie der mit Dauer der Krise wachsende Widerstand ließ dafür keine Zeit. Wohlgemerkt, die Dialogmetapher birgt eine positive und hoffnungsvolle (wenngleich oft missbrauchte) demokratiepolitische Vision, und konkrete Öffentlichkeitsdialoge (wie beispielsweise gegenwärtig in Form des deutschen Bürgerrats für Klimapolitik) sind als Errungenschaften im Rahmen repräsentativer Demokratien zu werten. Doch sind sie nicht immer machbar und selten von nachweislichem Einfluss.

Pressekonferenz mit Andreas Bergthaler
APA/HELMUT FOHRINGER
Bei regelmäßigen Pressekonferenzen wurde die Öffentlichkeit in Österreich von Experten informiert, hier Andreas Bergthaler vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM).

Nach einem Universalmodell der Wissenschaftskommunikation sucht man also vergeblich. Die in rivalisierenden Schulen und Karrierepfaden organisierten Sozialwissenschaften verfolgen oft eine kritische Agenda, die ihre Konzepte einfärbt und auf wissenschafts- und technologiepolitisch Resonanz abzielt. Das ist nicht falsch und offeriert eine Vielfalt an Perspektiven, ist aber nicht mit der Suche nach generalisierbaren Theorien zu verwechseln.

Informationsmangel nicht das Problem

In liberalen Gesellschaften steht uns frei, ob wir unser Weltverständnis aus der Wissenschaft oder beliebigen anderen Quellen schöpfen. Mit der digitalen Revolution sind diese Quellen (wie auch die Verbreitung von Unsinn) für alle nicht weiter als einen Mausklick entfernt. Und doch darf die Wahl dieser Quellen keine beliebige sein. Denn Probleme treten nicht erst auf, wenn unsere subjektive Realitätssicht zu Handlungen führt, die Rechtsgüter gefährden.

Auch die Qualität des öffentlichen Diskurses und damit demokratischer Entscheidungsprozesse hängt – neben vielem anderen – davon ab, ob wissenschaftliche Zusammenhänge von der Bevölkerung verstanden und richtig eingeschätzt werden. Informationsmangel ist dabei nicht das Problem. Vielmehr geht es um Bildung, Reflexions- und Urteilsvermögen. Hierzu wird Wissenschaftskommunikation in all ihren Formen auch in Zukunft ihren unverzichtbaren Beitrag leisten.