Die Worte „You’ll never walk alone“ auf dem Zaun des Liverpool-Stadions
AFP – PAUL ELLIS
AFP – PAUL ELLIS
Gastbeitrag

Wo ist der „Spirit of the Game"?

Eine „Super League“ mit den allerreichsten Fußballclubs Europas kommt vorerst zwar nicht. Aber schon in der Champions League, die Ende Mai in ihrem Finale gipfelte, dominieren Wirtschaftsinteressen. Ob daneben noch etwas vom „Spirit of the Game“ übriggeblieben ist, untersucht der Sportethiker Thomas Gremsl in einem Gastbeitrag.

„Einige Leute halten Fußball für einen Kampf auf Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es weit ernster ist.“ Dieses ironische Zitat des schottischen Fußballers Bill Shankley eröffnet eine Perspektive auf den hohen Stellenwert, den Fußball im Leben vieler Menschen einnimmt. Mit seinen etwa vier Milliarden über den gesamten Globus verstreuten Fans – und damit der halben Weltbevölkerung – ist Fußball die populärste und, möchte man dem offiziellen Regelwerk des International Football Association Board (IFAB) folgen, die bedeutendste Sportart der Welt.

Porträtfoto Thomas Gremsl
privat

Über den Autor

Thomas Gremsl lehrt und forscht als PostDoc am Institut für Ethik und Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz mit Schwerpunkten im Bereich (Sozial)Ethik und digitaler Wandel sowie Sportethik.

Fußballer:innen und Vereine prägen unsere Gesellschaft, viele von ihnen dienen uns als Idole oder fungieren als gemeinschaftsstiftende Institutionen und leisten wichtige gesellschaftliche Beiträge wie etwa in der Jugendarbeit oder der Integration. Der Fußballplatz (respektive das Stadion) ist ein eigener Mikrokosmos, er ist ein Ort des menschlichen Spiels, ein Ort der Leidenschaft, des Lachens und des Weinens, er ist ein Ort des Diskutierens und Zusammentreffens beinahe aller sozialer Schichten und auch ein Ort, der intensiv in Beziehung zu gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Akteuren steht.

Utopie für einige wird Dystopie für viele

Wie unsere Gesellschaft sich in einem stetigen Wandel befindet, so wandelt sich auch der Fußball. Jährlich veröffentlicht das IFAB neue Regeländerungen mit dem Ziel, den Sport noch interessanter und attraktiver zu gestalten. Auch Spielmodi und Ligen werden vor dem Hintergrund der Attraktivitätssteigerung adaptiert. Man denke etwa an die erst kürzlich erfolgte Reform der österreichischen Fußballbundesliga.

Die im Moment vorherrschende Diskussion über eine von einzelnen Vereinen ausgerufene utopisch anmutende „Super League“, mit der ihre finanziellen Sorgen der Vergangenheit angehören sollen, kann hier aber nicht nahtlos in die normalen Transformationsprozesse der Fußballwelt eingereiht werden.

Hierbei handelt es sich allem Anschein nach um einen besonders massiven Fall der Vertauschung von Mitteln und Zielen. Der wirtschaftliche Faktor, der im Sinne der Eigengesetzlichkeit des Profifußballs natürlich einen hohen Stellenwert einnimmt, wird von den anderen wesentlichen Faktoren und Werten des Fußballs entkoppelt und überhöht. Dadurch besteht die Gefahr, dass der Fußball als Ganzes beachtlichen Schaden nimmt. Aus der Utopie einiger weniger droht eine Dystopie für die Massen zu werden.

Ich mach’ mir die Welt, widde widde, wie sie mir gefällt

Durch diese Perspektive, den Fußball vor allem aus einem wirtschaftlichen, auf Profitmaximierung ausgerichteten Blickwinkel zu betrachten sowie danach zu handeln, und das entgegen vorhandener, über lange Zeit hindurch ausgehandelter und gefestigter Konventionen, kommt es zu massiven Herausforderungen für den Fußball als Ganzes.

Diese Vereine und ihre Verantwortungsträger:innen – von welchen einige aktuell sportlich gar kein Ticket für die Königsklasse des Fußballs lösen konnten – senden eine Botschaft aus, dass Geld über allem anderen zu stehen scheint und der faire sportliche Wettkampf, in welchem Jahr für Jahr um den Auf- und gegen den Abstieg gespielt wird, nur von sekundärer Bedeutung ist. Frei nach dem Motto: „Wenn wir nicht genug Geld bekommen, gründen wir uns eben einfach eine eigene Liga, denn wir sind es, was die Fans sehen wollen.“

Chelsea-Fans mit einem Leintuch, auf das sie den Spruch „RIP 1863 Football“ gesprayt haben
AFP – JUSTIN TALLIS
Chelsea-Fans mit einer klaren Botschaft – bevor ihr Club die Teilnahme an der Super League widerrief

Finanzierungsprobleme der großen Clubs

Begründet wird die Notwendigkeit zur Gründung einer solchen Liga aktuell vor allem mit den finanziellen Einbußen der Vereine durch die Covid-19-Pandemie. Von Seiten der potenziellen Gründungsmitglieder werden hier 650 Millionen Euro für die vergangene Saison und 2,5 Milliarden Euro für das aktuelle Jahr als Verlust genannt. Wenn besagte Clubs nur mehr diesen einen Ausweg aus ihren finanziellen Problemlagen sehen, muss auch kritisch hinterfragt werden, wie es überhaupt zu diesen kommen konnte.

Sich nun vor die versammelte Fußballgemeinschaft zu stellen und zu sagen, die geplante Champions-League-Reform der UEFA würde nicht weit genug gehen, um diese Herausforderungen aufzufangen, und sich damit zu rechtfertigen, man hätte ja zuvor versucht, das vorhandene System zu ändern, es habe aber nicht funktioniert, ist wiederum sehr einseitig und kurz gedacht. Zumal die geplante Champions-League-Reform mit ihren fast verdoppelten Bewerbsspielen (ein Plus von 100 Matches pro Saison) und den damit ebenfalls steigenden TV-Geldern und mehr fixen CL-Startplätzen für die großen nationalen Ligen durchaus eine deutlich auf wirtschaftliche Faktoren abgestimmte Sprache spricht.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 28.5., 13:55 Uhr.

Anstatt aber über nachhaltigen Veränderungen eines Systems, in dem es überhaupt erst zu derart massiven Verlusten kommen konnte, zu reflektieren, wird hier die eigene Position scheinbar einfach absolut gesetzt. Anstatt gemeinsam mit allen Beteiligten nach einer konsensualen Lösung zu suchen, will man sich eine eigene Fußballwelt konstruieren, in der nicht das Spiel, sondern der Profit im Vordergrund zu stehen scheint; denn der sportliche Mehrgehalt einer solchen geschlossenen Liga der fußballerischen Eliten lässt sich sehr kritisch hinterfragen.

Kommando retour! Oder doch nicht?

Nach den massiven Interventionen von Seiten der UEFA, zahlreicher nationaler Mitgliedsverbände und Clubs, aber auch aus Richtung von Gesellschaft sowie Politik und nicht zuletzt von vielen Fußballfans, zogen die meisten Vereine ihre Pläne in Bezug auf eine „Super League“ zurück. UEFA Präsident Aleksander Ceferin hierzu wörtlich: „Es war der Versuch, eine Phantomliga der Reichen zu gründen, die keinem System folgen würde, die den Pyramidenaufbau des Fußballs in Europa nicht berücksichtigen würde, nicht seine Kultur, Tradition oder Geschichte.“

Fans von Manchester United protestierten am 24. April gegen die Entscheidung der Clubführung, an der europäischen Super League teilzunehmen
AFP – OLI SCARFF
Fans von Manchester United protestierten am 24. April gegen die Entscheidung der Clubführung, an der europäischen Super League teilzunehmen

Mit Real Madrid, FC Barcelona und Juventus Turin gibt aber noch drei Vereine, die an den Plänen dieser „Profitliga“ festhalten. Fußball aber nur aus diesem Blickwinkel zu betrachten, wird seiner Komplexität in keinster Weise gerecht. So bleibt beispielsweise zu fragen, welchen sportlichen Sinn eine solche Liga mit den immer selben Vereinen für den Fußball als Ganzes hätte.

Warum sollte man in Zeiten einer weltweiten Pandemie, deren negative soziale Auswüchse noch weit in die Zukunft reichen werden, eine neue Liga gründen, die Milliarden Euro an neuen Kosten verursachen würde und nur einigen wenigen europäischen Clubs zugutekäme? Warum sollte das international ohnehin schon übersättigte Fußballtreiben – welches ja mit der CL-Reform ohnehin weiter genährt wird – noch mit einem weiteren Bewerb gefüttert werden? Und vor allem, wie werden die Stimmen der hunderttausenden europäischen Fußballfans gehört und berücksichtigt?

Fußball ist viel mehr als Ökonomie

Im offiziellen IFAB-Fußballregelwerk, dem Fundament des weltweiten Fußballgeschehens, wird gleich zu Beginn (zumindest in der englischen Originalversion, denn in der deutschen Übersetzung fehlt dieser wichtige Part zur Gänze) eine wesentliche Größe vorgestellt – der „Spirit of the Game“. Als fußballerisches Ethos gilt es, diesen in allen damit verbundenen Fragen zu berücksichtigen, sowohl im konkreten Match als auch in Bezug auf den Fußball als Ganzes. Als transzendenter Bezugspunkt des Fußballs eröffnet er die Perspektive auf wichtige Werte wie Fairness, Teamgeist, Gemeinschaft, die Schönheit des Spiels, Respekt oder Toleranz. Er weitet das Sichtfeld und trägt dazu bei, dass nicht ein Teilaspekt des Fußballs pars pro toto betrachtet und behandelt wird.

Besonders wesentlich erscheint es mir, eben vor dem Hintergrund profitorientierter Tendenzen vor allem „das Ganze“ als ethische Perspektive mitzudenken. Das bedeutet, dass gerade auch im Sport und konkreter im Fußball vorhandene Verengungstendenzen und Verkürzungen aufgebrochen und das Sichtfeld geweitet werden muss. Denn Fußball ist weit mehr als nur ein wirtschaftlicher Faktor. Er ist eben eine Art eigener Mikrokosmos, der sich über Jahrzehnte hinweg zu dem von so vielen Menschen geliebten, facettenreichen Phänomen entwickelt hat. So stiftet Fußball beispielsweise für viele Menschen Sinn und Identität, er weist aber auch auf brennende soziale Probleme unserer Gesellschaften wie etwa Diskriminierung oder Rassismus hin und hält uns so den Spiegel vor.

Die in den letzten Wochen vorgestellte und diskutierte „Super League“ scheint zu einseitig von wirtschaftlichen Standpunkten her gedacht zu sein, und ist aus mehreren Gründen kritisch zu hinterfragen. Fußball ist nicht nur ein wirtschaftlicher Faktor, er bietet vielen Menschen Halt und einen Raum für Gemeinschaft, er ist eben „mehr“!