Ein Geschäftsmann hält eine Dosis CoV-Impfstoff zwischen seinen Fingern
topkritsada – stock.adobe.com
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CoV-Impfstoffe

Wer macht den Stich?

Dass Impfstoffe vorwiegend von Pharmaunternehmen hergestellt werden, ist ein relativ neues Phänomen. Noch bis in die 1980er Jahre produzierten viele Staaten die nötigen Vakzine selbst. Staatliches und militärisches Interesse waren wichtiger als Profite. Mit der Globalisierung der Wirtschaft änderte sich das – die Coronavirus-Pandemie wirft auch ein Schlaglicht auf die aktuelle politische Ökonomie der Impfstoffproduktion.

Covid-19 hat den Weltmarkt für Impfstoffe durcheinandergewirbelt. Vor der Pandemie wurden pro Jahr rund fünf Milliarden Impfdosen produziert, laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) die meisten davon gegen Polio, Diphterie und Tetanus. Fast die Hälfte ging über die Impfallianz Gavi nach Südostasien und Afrika. Heuer werden nach Schätzungen allein gegen SARS-CoV-2 mehr als doppelt so viele Vakzine hergestellt. Hauptabnehmer dieser rund zehn Milliarden Dosen ist der globale Norden. Da dort die Zahlungskraft zu Hause ist, machen die Pharmafirmen ein gutes Geschäft.

Weltmarkt hat sich dramatisch verändert

Laut einem UNICEF-Überblick variieren die Preise für Covid-19-Impfstoffe stark von Land zu Land. Pfizer und Biontech verlangen für eine Dosis in Afrika knapp sieben Dollar, in den USA 20. Ein Moderna-Stich kostet in den USA 15 Dollar, in anderen Industrieländern bis zu 37. Am günstigsten ist der in Kooperation mit der Universität Oxford entwickelte Impfstoff von AstraZeneca. Er wird laut Herstellern zum Selbstkostenpreis abgegeben, das sind zwischen zwei und fünf Dollar.

Insgesamt zahlt sich das aus: Moderna rechnet im heurigen Geschäftsjahr mit einem Umsatz von 16 Mrd. Euro, Pfizer allein durch den Coronavirus-Impfstoff mit einem Jahresumsatz von 21 Mrd. Euro und Johnson & Johnson mit einer Steigerung des Gesamtjahresumsatzes auf 73 Mrd. 2022. Wenn Unternehmen wie Curevac und Novavax weitere Impfstoffe auf den Markt bringen sollten, erwarten Experten der deutschen DZ-Bank einen Anstieg des Marktvolumens auf 217 Mrd. Dollar.

Das wäre tatsächlich eine „Marktexplosion“, denn der Gesamtwert der globalen Impfstoffproduktion lag laut WHO vor der Pandemie bei jährlich „nur“ 27 Mrd. Euro. Das waren nur zwei bis drei Prozent des Weltpharmamarkts, der bei über eine Billion Euro liegt. Schon vor Covid-19 waren die Wachstumsraten bei Impfstoffen höher als bei anderen Arzneimitteln. Seit der Pandemie ist der Impfstoffmarkt nun endgültig ein Wachstumsmarkt. Allein der Wert der Bestellungen der EU bei Pfizer und Biontech beträgt 35 Mrd. Euro.

Eine Frau mit Schutzmaske geht vor einem Pfizerschild vorbei
AFP – KENA BETANCUR

Blick zurück: Es begann mit den Kuhpocken

So groß diese Zahlen sind, so kurz ist historisch betrachtet der Zeitraum dieser Entwicklung. Mit europäischer Brille betrachtet dauert er nicht viel länger als 200 Jahre. Auch wenn ähnliche Techniken im fernen und nahen Osten schon länger angewandt wurden: In Europa gilt der britische Landarzt Edward Jenner als Erfinder der Impfung. 1796 träufelte er den Inhalt einer Kuhpockenblase in den leicht aufgeritzten Oberarm eines jungen Mannes. Der junge Mann wurde so gegen die gefährlichen Pocken immun. Da Jenner den Erreger der Kuh verwendete, nannte er die Technik „Vakzination“ – vom lateinischen Wort vacca, die Kuh. Diese Pockenimpfung war in vielen Ländern ein Erfolg, auch in Österreich, wo eine andere Variante von Kaiserin Maria Theresia stark gefördert wurde.

Wichtige Grundlagenforschung leisteten in der Folge staatliche Einrichtungen, allen voran das Pasteur-Institut in Paris und das Preußische Institut für Infektionskrankheiten in Berlin. „Louis Pasteur und Robert Koch verwendeten Ende des 19. Jahrhunderts abgeschwächte Formen von Krankheitserregern. Daraus entwickelten sie Impfungen etwa gegen Diphterie, Tollwut und Tuberkulose“, erzählt der Impfhistoriker Stuart Blume von der Universität Amsterdam.

Wichtige Rolle von Politik und Militär

Impfungen als Teil öffentlicher Gesundheit waren von Beginn an mit politischen Interessen verwoben. Das Pasteur-Institut etwa öffnete eine Reihe von Filialen in Frankreichs Kolonien. Von Afrika über Indochina bis Hongkong wurden lokale Krankheiten erforscht. Eine immer wichtigere Rolle spielte das Militär. Denn Soldaten sollten zwar andere erschießen, sich in den fremden Ländern aber nicht mit fremden Krankheiten anstecken.

Im Spanisch-Amerikanischen Krieg Ende des 19. Jahrhunderts etwa stellte sich heraus, dass Moskitonetze gegen die Überträger von Gelbfieber helfen; das britische Militär entwickelte im Burenkrieg einen Impfstoff gegen Typhus. Und während die Menschheit nach dem Ersten Weltkrieg der Spanischen Grippe noch hilflos ausgeliefert war, entwickelten US-Militärärzte im Zweiten Weltkrieg den ersten Impfstoff aus inaktivierten Influenza-Viren.

Ab den 1950er Jahren kam es zu Durchbrüchen in der Forschung. „Eine Reihe von antiviralen Impfstoffen wurden entwickelt, für die öffentliche Gesundheit am wichtigsten die gegen Polio und Masern“, erzählt der Sozialwissenschaftler Blume, der gerade an einem Buch zur Politikökonomie der Impfherstellung schreibt.

Damit begann so etwas wie eine goldene Ära der Impfstoffentwicklung. Neben Kinderlähmung und Masern wurden auch Impfstoffe gegen Röteln und Mumps entwickelt. Letzteres in Rekordzeit. Nur vier Jahre brauchte die Pharmafirma Merck in den 1960er Jahren für ihren Mumps-Impfstoff – das blieb bis Covid-19 Rekord. Die wichtigste Erfolgsgeschichte dieser Ära betraf die Pocken. Am Höhepunkt des Kalten Kriegs beschlossen die Sowjetunion und die USA bei der Bekämpfung der Pocken zusammenzuarbeiten – und das mit großem Erfolg, 1980 erklärte die WHO die Welt für pockenfrei.

Ein Broker an der Börse vor einem sinkenden Börsenkurs
AFP – DANIEL ROLAND

Neoliberalismus änderte alles

Öffentliche Einrichtungen und private Impfhersteller kooperierten in den 1970er Jahren, neues Wissen aus den Laboren wurde geteilt, Patente waren noch die Ausnahme. Aber das änderte sich in den 1980ern, wie Blume erzählt: „Speziell in den USA, wo die Impfstoffproduktion komplett privat war, fanden Pharmaunternehmen, dass es viel riskanter und schwieriger war, Impfstoffe herzustellen als Medikamente. Sie haben jede Menge Antibiotika entwickelt, und das war viel profitabler. Viele zogen sich deshalb von der Impfstoffentwicklung und -produktion zurück.“

Ö1 Sendungshinweis:

Wer macht den Stich? Die politische Ökonomie der Impfstoffproduktion: Dimensionen, 1.6.2021, 19.05 Uhr.

In Europa war das zum Teil noch anders. In den damals noch bestehenden Ländern des kommunistischen Ostblocks sowieso, aber auch westliche Wohlfahrtsstaaten wie Skandinavien und die Niederlande verfügten noch über eine öffentliche Impfstoffproduktion, die nicht profitorientiert war. „In den Niederlanden wurden etwa bis in die 80er Jahre fast alle benötigten Impfstoffe hergestellt“, erzählt der Sozialwissenschaftler. „Dann begannen sich die neoliberalen Ideen durchzusetzen, der Staat soll so wenig wie möglich machen etc. Außerdem wurden neue Techniken entwickelt, wie man Impfstoffe herstellen kann – etwa durch die Manipulation von Genen.“

Diese neuen Gentechniken waren komplizierter als die vorher verwendeten. Entwickelt wurden sie meist an Universitäten und dann in Spin-offs zur Marktreife gebracht. Die großen Pharmafirmen kauften sie ein, und damit auch die Technik, die sie sich per Patent schützen ließen.

Neue Ideologie, neue Techniken

Ein Beispiel, das diese Entwicklung veranschaulicht: Laut einer Umfrage des US-Impfherstellerverbands gab es noch 1983 unter 27 Impfstoffprodukten nur zwei Patente. Ein Jahrzehnt später brauchte das britische Pharmaunternehmen SmithKline Beecham bereits 14 Patente, um einen Hepatitis-Impfstoff herzustellen. Juristische Grundlage dafür war ein Urteil des US-Höchstgerichts, wonach man genetisch veränderte Organismen patentieren kann.

Das nutzten die Spin-offs der Unis und die Pharmafirmen eifrig. Statt einer Kooperation von Staat und Privat gaben nun zunehmend die Pharmafirmen den Ton an – und die Regierungen der westlichen Staaten die Möglichkeit ab, selbst Impfstoffe herzustellen. „Zum Teil aus ideologischen Gründen, zum Teil weil sie überzeugt wurden, dass es billiger wäre, die Impfstoffe von der Privatindustrie einzukaufen. Zum Teil auch weil die öffentlichen Forschungsinstitute keinen Zugang zur neuesten Technologie hatten“, erzählt Blume.

Ab den 1980er Jahren wurden die meisten noch in Staatsbesitz befindlichen Forschungseinrichtungen privatisiert. Die Ausnahmen sind bekannt aus: China, Russland, Brasilien, Kuba und einigen wenigen anderen Ländern. Mit der Globalisierung kam es auch zu einer starken Marktkonzentration der Impfstoffhersteller. Laut WHO kontrollieren heute vier große Hersteller – GlaxoSmithKline, Pfizer, Merck und Sanofi – 90 Prozent des Weltmarkts.

Kurzfristige Gewinne und Aktienkurse wurden immer wichtiger. Für alle Marktteilnehmer, somit auch für Pharmafirmen, bedeutete das, auf möglichst profitable Produkte zu setzen. Und Medikamente, die Krankheiten bekämpfen, sind fast immer lukrativer als Impfstoffe, die Krankheiten vorbeugen – und oft nur einmal verabreicht werden müssen.

Ein Forscher im Labor
APA/dpa/Biontech Se

Heute kann man die Sonne patentieren

Beispielhaft für die Veränderung ist eine Aussage des US-Immunologen Jonas Salk aus dem Jahr 1955. Auf die Frage eines Reporters, wem das Patent auf den Polio-Impfstoff gehört, den er gerade erfunden hatte, erwiderte er: „Allen Menschen, würde ich sagen. Es gibt kein Patent für den Impfstoff. Kann man denn die Sonne patentieren?“

Salks Antwort ist heute fast undenkbar. Fast. Denn ausgerechnet die USA haben Anfang Mai die Aufhebung des Patentschutzes – eines zentralen Bestandteils der weltweit gültigen TRIPS-Handelsverträge – wieder zu einer Denkmöglichkeit gemacht. „Diese außergewöhnlichen Zeiten verlangen nach außergewöhnlichen Maßnahmen“, twitterte die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai Anfang Mai und machte öffentlich, dass die USA die Aufhebung des Patentschutzes auf Covid-19-Impfstoffe unterstützen.

Bereits im Herbst des vergangenen Jahres hatten Südafrika und Indien bei der Welthandelsorganisation (WTO) beantragt, Patente auf Covid-19-Produkte für die Dauer der Pandemie auszusetzen. Mehr als hundert Staaten haben diesen Antrag bisher unterstützt, die EU und auch die USA hatten sich ursprünglich dagegen ausgesprochen. Ob es sich beim US-Vorstoß um einen echten Kurswechsel oder um Imagepolitur handelt, wird die Zukunft weisen. Jetzt schon sicher ist: Die Aufhebung des Patentschutzes allein wird nicht reichen, um die dramatische Ungleichheit in der Impfstoffversorgung – in Nordamerika und Europa ist aktuell mehr als die Hälfte erstgeimpft, in Afrika sind es noch keine drei Prozent – auszugleichen.

Es brauchte auch Technologietransfer

Es bedürfe auch eines Technologietransfers in ärmere Länder, wie ihn etwa Ärzte ohne Grenzen seit Jahren prinzipiell fordert. Die aktuelle Pandemie wäre eine gute Gelegenheit, die Regeln zwischen staatlichen Förderern und privaten Pharmafirmen neu zu schreiben. Die Staaten sollten an die Milliardensubventionen eine Reihe konkreter Bedingungen knüpfen, sagt Yuan Qiong Hu, Senior Legal and Policy Advisor von Ärzte ohne Grenzen. „Als Erstes: volle Transparenz der Ausgaben. Wenn die Pharmafirmen so viel Geld bekommen, sollen sie auch genau sagen, wofür sie es ausgeben. Denn daraus berechnen sie ja den Preis des Impfstoffs.“

Zweitens sollten die Pharmafirmen alle Daten zu ihren Studien öffentlich zugänglich machen: nicht nur die Resultate der klinischen Untersuchungen, sondern auch die Rohdaten. „Drittens sollten die Pharmafirmen ihre Verträge offenlegen – sowohl die mit den Regierungen als auch jene mit den anderen Unternehmen, mit denen sie eine Lizenzvereinbarung getroffen haben“, so Hu.

Pandemie erst vorbei, wenn alle Impfstoffe haben

Alle drei Forderungen betreffen die Zukunft. Was aus Sicht von Ärzte ohne Grenzen schon jetzt getan werden müsste: Zum einen sollen die reichen Länder die Impfstoffe, die sie nicht benötigen, an ärmere Länder abgeben – so wie das die USA und die EU bereits versprochen haben. „Zum anderen sollten die Regierungen weltweit zusammenarbeiten, um die Produktionskapazitäten hochzufahren – von den Testkits bis zu den Impfstoffen und medizinischen Instrumenten.“

Am globalen Impf-Ungleichgewicht stößt sich mittlerweile auch die EU. Afrika importiere 99 Prozent seiner Impfstoffe, das müsse sich ändern, sagte Ursula von der Leyen vor wenigen Tagen beim Weltgesundheitsgipfel in Rom. Die EU will nun den Bau von Impfstofffabriken in Afrika mit einer Milliarde Euro unterstützen. Denn eines habe man gelernt: Die Pandemie könne erst dann vorbei sein, wenn alle Zugang zu Impfstoffen hätten.