Schüler mit Migrationshintergrund diskutieren in einer Klasse
LIGHTFIELD STUDIOS – stock.adobe.com
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Bildung

Jugendliche viel politischer als oft angenommen

Die Jugend wird oft als unpolitisch abgestempelt: Das ist ein Vorurteil, wie Bildungswissenschaftler berichten. Junge Erwachsene würden vor allem politische Prozesse sehr gut verstehen, auch wenn ihnen manchmal das konkrete Wissen über Politik fehlt.

Immer mehr junge Menschen haben eine Migrationsgeschichte, vor allem in den europäischen Städten. Diese Migrationsgeschichte wird oftmals als Ursache gesehen, warum Jugendliche sich nicht für Politik interessieren, sagt der Bildungswissenschaftler Oscar Thomas-Olalde von der Universität Innsbruck. Für ein internationales Forschungsteam war diese Argumentation der Ausgangspunkt, um in Berlin, Wien und Zürich die politische Praxis an Schulen zu analysieren, die einen hohen Migrationsanteil aufweisen.

Ein Jahr lang im Klassenzimmer

Die Wirklichkeit begreifen und sich politisch artikulieren können, das sollte das Ziel politischer Bildung sein, sagt Oscar Thomas-Olalde. Allzu oft wird jedoch auf politisches Wissen fokussiert. Und was das anbelangt, gebe es sehr wohl Unterschiede: Ob Jugendliche das Regierungssystem und die Parteienlandschaft erklären können, hänge stark von sozioökonomischen Faktoren ab; vom Einkommen oder dem Bildungsstand der Eltern etwa. Politik, das sei aber nicht nur Wissen, sondern auch Prozesse, die man gestaltet. „Um sich eine gute Ordnung zu geben, um gut miteinander auszukommen, um einen Zusammenhalt herzustellen, um gute und faire Regeln für alle zu haben.“

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 10.6., 13:55 Uhr.

Tagung

Ab 10.6. findet die Online-Tagung „Migration, Bildung und das Politische“ statt, organisiert von den Universitäten Zürich, Bielefeld und Innsbruck.

Wie diese alltäglichen politischen Prozesse – die politische Praxis – im Unterricht gelebt wird, das wurde ein Jahr lang unter anderem an vier Wiener Schulen beforscht. Dabei wurden bewusst Schulen ausgewählt, die stark von Migration geprägt sind: eine sogenannte Brennpunktschule ebenso wie ein internationales Elitegymnasium. Was den Forscherinnen und Forschern dabei auffiel: Themen, die Jugendliche in ihrem Alltag betreffen, wie die Nutzung von digitalen Medien etwa, sind nur selten Gegenstand politischer Bildung. Ebenso wenig thematisiert werden politische Affekte und Emotionen, wie etwa Empörung. „Was empört mich in meiner direkten Welt? Das kommt so selten zur Sprache.“

Politik als diskursiver Prozess

Politik ist auch ein Aushandlungsprozess, in dem Argumente und Sichtweisen gegeneinander vorgebracht werden. Die Jugendlichen hätten ein viel besseres Verständnis von dieser diskursiven Dimension des Politischen als in den Schulen angenommen wird, sagt der Bildungswissenschaftler und erzählt ein Beispiel aus der Unterrichtsbeobachtung:

In einer Unterrichtsstunde wird das Thema Integration behandelt. Die Lehrperson argumentiert, dass in Schulen die Durchmischung fehle, was die Integration verunmögliche, und fragt, wer denn im Klassenzimmer Österreicherin oder Österreicher sei. Die Schülerinnen und Schüler hätten der Lehrperson daraufhin Deutungsangebote gemacht – etwa erklärt, dass einige ja den österreichischen Pass hätten, in Österreich geboren seien oder ein Elternteil österreichisch sei. Die Lehrkraft lehnt diese Argumente jedoch ab; man einigt sich darauf, dass „österreichisch“ über die Wurzeln definiert werde.

„Dieses Beispiel zeigt, dass die Jugendlichen den Diskurs erkannt haben und auch wissen, dass dieser Diskurs ein gemachter ist“, erklärt Oscar Thomas-Olalde. Immerhin hätten die Jugendlichen sowohl rechtliche als auch territoriale und biologistische Argumente vorgebracht. Und sie hätten ein Verständnis davon, „dass Integration auch ein Machtspiel ist, wo es auch darum geht, wer Zugehörigkeiten wem zusprechen oder absprechen darf.“

Dieses diskursive Wissen über das Politische werde im Unterricht nicht thematisiert, sagt der Forscher. Doch dieses Wissen sei da und die Jugendlichen damit politisch viel versierter als gemeinhin angenommen wird.