Historische Postkarte: Frau und Mann beim Küssen
Archivist – stock.adobe.com
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Gastbeitrag

Sex als Scheidungsgrund

Das 19. Jahrhundert gilt bis heute als Zeitalter, in dem nicht über Sexualität gesprochen wurde. Doch das stimmt nicht, wie die Historikerin Stephanie Rieder nachweist: Über die eheliche Pflicht zum Geschlechtsverkehr wurde etwa vor Gericht debattiert – und das mit durchaus pikanten Details.

November 1867 in Wien: Im Scheidungsverfahren gegen ihren Ehemann Josef Piel brachte die 59-jährige Tapezierersgattin Katharina Piel in der mündlichen Verhandlung vor: „Gleich in den ersten Tagen nach unserer Verehlichung [im Mai 1839] machte ich meinem Gatten über die Art, wie er mir die ehliche Pflicht leisten wollte, Vorstellungen; denn er drang nie in meinen Körper ein, oder wollte sich mir mit verhülltem Gliede nähern. […] kurz, er wohnte mir nie ehlich bei.“

Historikerin Stephanie Rieder
IFK

Über die Autorin

Stephanie Rieder studierte Rechtswissenschaften und Geschichte in Wien. Seit 2019 ist sie DOC-Team-Stipendiatin der Akademie der Wissenschaften am Institut für Geschichte der Uni Wien.

Derzeit forscht sie als Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften. Am 14. Juni hält sie zum Beitragsthema einen Vortrag.

Grund hierfür sei unter anderem die Angst ihres Mannes gewesen, sie könnte infolge einer Schwangerschaft sterben, so Katharina Piel. „Selbst als die Zeit meiner Periode vorüber war“, erläuterte die Ehefrau weiter, „wohnte er mir nicht bei, sondern fertigte mich damit ab, ,daß die Hl. Elisabeth noch in ihrem 60. Jahre empfangen habe‘.“

Josef Piel hingegen bestritt die Aussagen seiner Frau als „unwahr“. Er habe ihr zwar in der Hochzeitsnacht „wegen Ermüdung nicht beigewohnt“, danach sei dies aber „oft und in ordentlicher Weise geschehen“.

Kein Verkehr?

Katharina Piels Verfahren ist nur eines von mehreren Beispielen dafür, dass auch im 19. Jahrhundert im Gebiet des heutigen Österreichs die eheliche Pflicht zum Geschlechtsverkehr und dessen Verweigerung in Scheidungsverfahren explizit verhandelt wurden.

Das Ehepaar Piel war nach römisch-katholischem Ritus getraut worden (die obligatorische Zivilehe wurde in Österreich erst 1938 eingeführt). Katharina Piel stand daher nur die Möglichkeit einer sogenannten Scheidung von Tisch und Bett offen, die jedoch das Band der Ehe nicht trennte. Eine darauffolgende Neuverheiratung mit einer dritten Person war bis zum Tod des anderen Ehepartners ausgeschlossen.

Hatte Josef Piel seiner Ehefrau tatsächlich den Geschlechtsverkehr verweigert, wie diese behauptete? Dies ist und bleibt freilich ungewiss. Ehegerichtsakten können keine Auskunft über das tatsächliche Ehe- und Sexualleben geben. Vielmehr werden wir in den Akten mit den von den Eheleuten vor Gericht vorgebrachten (und, wie auch im Falle des Ehepaares Piels, einander oft widersprechenden) Darstellungen ihres Zusammenlebens konfrontiert. Diese Darstellungen ermöglichen jedoch einen interessanten Einblick in die vielfältigen Argumentationen und Rechtfertigungsstrategien vor Gericht – auch in Hinblick auf die eheliche Pflicht zum Geschlechtsverkehr.

Säkulare Beichte vor Gericht

Diese eheliche Pflicht war in der zentralen zivilrechtlichen Kodifikation, dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) aus dem Jahr 1811, als Verpflichtung beider Ehepartner/innen zum Geschlechtsverkehr festgelegt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestätigten die Rechtsliteratur und Judikatur, dass eine Verweigerung derselben einen Scheidungsgrund darstellen konnte.

Das Sprechen über die (eheliche) Sexualität vor Gericht wurde dadurch angeregt – und kann als eine Art säkulare Beichte betrachtet werden, die eben nicht vor der religiösen Instanz, dem Priester, sondern vor der rechtlichen Instanz, dem Richter, abgelegt wurde. Die (säkulare) Absolution erfolgte hierbei in Form eines Scheidungsurteils.

Das Befragen, Bezeugen und Aussagen vor Gericht kreiste dabei immer wieder um die (ehelichen) Körper, ihre Verfügbarmachung und Entziehung, die nicht grundlos erfolgen durfte. So existierte eine Vielzahl von anerkannten Verweigerungsgründen wie beispielsweise die Schwangerschaft der Ehefrau oder auch Krankheiten der Ehepartner/innen.

„Vernachlässigt eheliche Pflichten“

Katharina Piels Verfahren war kein Einzelfall. Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts thematisierten Frauen die Verweigerung des ehelichen Verkehrs durch ihre Ehemänner vor Gericht. So beanstandete eine scheidungswillige Ehefrau beispielsweise im Jahr 1933 in ihrer Klage: „Mein Mann vernachlässigt mir gegenüber seine ehelichen Pflichten in beharrlicher Weise.“

Obwohl Frauen als Klägerinnen (und Zeuginnen) auftraten, war das Sprechen vor Gericht (und auch dessen Niederschrift) männlich dominiert: durch die Ehemänner, Richter und Anwälte sowie durch ärztliche Sachverständige. Auch über Katharina Piels Scheidungsklage entschieden männliche Richter: Ihre Klage wurde schlussendlich abgewiesen.

Darüber sprechen

Bis zum heutigen Tag wird fälschlicherweise angenommen, dass im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert (im Vergleich zu früheren Jahrhunderten oder zu heute) nicht über Sexualität gesprochen wurde. Historische Scheidungsverfahren wie jenes von Katharina Piel können hingegen veranschaulichen, dass auch damals vielfältige Diskurse über den (ehelichen) Sex geführt wurden – auch und insbesondere vor Gericht.

Erst kürzlich rückte schließlich die Thematisierung des ehelichen Geschlechtsverkehrs in Gerichtsverfahren wieder in den Mittelpunkt des medialen Interesses, als deutschsprachige Medien mit Schlagzeilen wie „Sex als ,eheliche Pflicht‘: mehr als unerfreulich“ vom Ausgang eines französischen Scheidungsverfahrens berichteten. Eine Frau hatte ihrem Ehemann den ehelichen Geschlechtsverkehr aus gesundheitlichen Gründen und aufgrund seiner Gewalttätigkeit verweigert und wurde deshalb für schuldig an der Scheidung befunden. Das Sprechen über die eheliche Sexualität vor Gericht ist somit nicht nur ein historisches, sondern auch ein hochaktuelles Thema.