Walter beim Käse ausziehen, Schweiz 2018
Matthäus Rest
Matthäus Rest
Gastbeitrag

Milchbakterien erzählen Geschichte

Vor rund 10.000 Jahren haben die Menschen Tiere gezähmt, die Milch geben. Dabei wurden die Bakterien der Milch quasi mitgezähmt. Was diese Bakterien heute über die gemeinsame Geschichte mit Menschen und Nutztieren erzählen, beschreibt der Ethnologe Matthäus Rest in einem Gastbeitrag.

„Die Milch ist nicht mehr so wie früher,“ habe ich in den letzten Jahren immer wieder von alten SennerInnen gehört. Durch die Mechanisierung der Landwirtschaft verhalte sich Rohmilch heute im Käsekessel so wie pasteurisierte Milch vor zwanzig Jahren. Aber wie war die Milch vor tausenden von Jahren? Und wie haben sich die Bakterien in der langen Zeit, die Menschen und Milchtiere zusammenleben, verändert? Dieser Frage geht ein interdisziplinäres Forschungsprojekt mit dem Titel „Dairy Cultures“ am Max Planck Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und der Harvard Universität in Boston nach, an dem ich beteiligt bin.

Porträtfoto von Matthäus Rest
Michelle O’Reilly

Über den Autor

Matthäus Rest ist Ethnologe sowie Bauer und arbeitet am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Derzeit ist er Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften, wo er am 28. Juni den Online-Vortrag „Geronnene Milch: alte DNA, Milchsäurebakterien und das Archiv des Lebens selbst“ hält.

In den letzten Jahren hat sich die Forschung über das Mikrobiom zu einem der spannendsten Felder der Biowissenschaften entwickelt. Als menschliches Mikrobiom bezeichnet die Wissenschaft die Gesamtheit aller Mikroorganismen, die im und am Menschen leben. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass etwa die Hälfte aller Zellen in unserem Körper nicht menschlich sind. Und neueste Erkenntnisse lassen vermuten, dass diese Organismen nicht nur zentrale Aufgaben in Verdauung und Immunabwehr übernehmen, sondern auch direkt auf unser seelisches Wohlbefinden Einfluss nehmen.

Mikrobiom und Krankheiten

Viele Mikrobiom-ForscherInnen gehen heute davon aus, dass die Zunahme von sogenannten Industriekrankheiten mit Veränderungen der Zusammensetzung unserer Mikroben zusammenhängt und hegen den Verdacht, dass unsere Lebensweise und Hygienevorstellungen dazu beitragen haben, dass wir viele „alte mikrobielle Freunde“ verloren haben. Doch um diese These zu belegen, greifen manche Forschungsgruppen auf fragwürdige Methoden zurück.

Als Stellvertreter für die Menschen der Vorzeit mussten in den letzten Jahren Menschen aus Afrika und Südamerika herhalten, die wenig oder keine Landwirtschaft betreiben. So wird die lange widerlegte Vorstellung, JägerInnen und Sammler seien „Steinzeitmenschen“ wiederbelebt. Auch wenn es tatsächlich große Unterschiede im Mikrobiom zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen gibt, zeigen gerade die Ergebnisse der mikrobiellen Ökologie, dass es praktisch keine Orte auf diesem Planeten mehr gibt, die nicht von Industrialisierung und Kapitalismus beinflusst sind.

Otgontsetseg melkt eines ihrer Rentiere, Mongolei 2018
Matthäus Rest
Otgontsetseg melkt eines ihrer Rentiere, Mongolei 2018

Milchwirtschaft seit 10.000 Jahren

Zum Glück gibt es bessere Möglichkeiten, die Evolution der Bakterien zu untersuchen. Die biomolekulare Archäologie hat im letzten Jahrzehnt bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Vor allem die Möglichkeit, DNA und Eiweiße aus alten Knochen, Zähnen, Alltagsgegenständen und fossilierten Exkrementen zu extrahieren, hat viele etablierte Theorien in der Archäologie bestätigt und manche Lücken in der Frühgeschichte gefüllt. Mit Bezug auf die Milchwirtschaft hat sie etwa bestätigt, dass Ziegen, Schafe und Rinder vor etwa 10.000 Jahren erstmals im heutigen Grenzgebiet zwischen Jordanien, Iran und der Türkei gezähmt wurden.

Letztes Jahr hat das „Dairy Cultures“ Team rund um Christina Warinner den ältesten Beweis für Milchwirtschaft in der heutigen Mongolei veröffentlicht. In 5.000 Jahre alten Zähnen haben die ArchäologInnen Spuren von Milcheiweiß von Schafen oder Ziegen gefunden. Doch das ist erst der Anfang. Durch den Vergleich der Bakterien-DNA aus archäologischen Funden mit aktuellen Proben aus der bäuerlichen Milchverarbeitung in Jordanien, der Mongolei und den Alpen erhofft sich das Team Rückschlüsse über die Ausbreitung der Milchwirtschaft in Eurasien treffen zu können.

Tsetsgee liest während des Käsen die Einverständniserklärung für die Verwendung ihrer Milch und Interviews im Rahmen von Dairy Culture, Mongolei 2018
Matthäus Rest
Tsetsgee liest während des Käsen die Einverständniserklärung für die Verwendung ihrer Milch und Interviews im Rahmen von Dairy Culture, Mongolei 2018

Zähmung von Tieren und Bakterien

Denn wir Menschen haben nicht nur die Tiere gezähmt, die uns Milch geben, sondern auch die Bakterien, die uns dabei helfen, diese Milch haltbar zu machen. Bis heute verlassen sich Millionen von KäserInnen weltweit jeden Tag wieder auf die Kraft von Milchsäurebakterien, die Milchzucker zu Milchsäure verdauen. So verhindern sie das Wachstum von schädlichen Keimen und geben dem Käse gleichzeitig seinen Geschmack.

Die Erbsubstanz dieser Bakterien zeigt klare Hinweise auf diese Zähmung. Über Jahrtausende haben Menschen sie in Sauermilchkulturen gehalten und wie Nutztiere haben sie mit der Zeit viele ihrer natürlichen Abwehrmechanismen abgelegt. Deshalb reagieren sie auch so viel empfindlicher auf Antibiotika als viele der schädlichen Keime – und deshalb wirkt sich die großangelegte Verwendung von Antibiotika in der modernen Landwirtschaft auch so direkt auf diese Gruppe der Bakterien aus. Und so ist es auch kein Märchen, wenn die SennerInnen sagen „Die Milch ist nicht mehr so wie früher.“