Forscher mit Schutzanzug im Labor, vor ihm ein runder Spiegel
Matt Heintze/Caltech/MIT/LIGO Lab
Matt Heintze/Caltech/MIT/LIGO Lab
Experiment

Zehnkilospiegel im Quantenzustand

Quanteneffekte zeigen sich normalerweise nur bei Elektronen und anderen winzigen Bestandteilen der Materie – doch im Labor lassen sich diese Effekte auch aus größeren Objekten herauskitzeln: Dieses Kunststück ist Forschern und Forscherinnen nun bei zehn Kilogramm schweren Spiegeln gelungen.

Wenn alle Bewegung verschwindet – was bleibt dann übrig? Die Materie im Zustand der niedrigsten Energie, die überhaupt möglich ist. „Grundzustand“ nennen das Physiker. Dieser Zustand ist quasi die Eingangstür zur Quantenwelt und verspricht einige praktische Anwendungen von Atomuhren bis hin zum Quantencomputer, eine Voraussetzung dafür ist jedenfalls, dass die Materie kalt ist, sehr kalt sogar. Denn Wärme bedeutet Bewegung – eine Art Rauschen, das man erst loswerden muss, damit die Materie ihre verborgenen Quanteneigenschaften bloßlegt.

Versuch am LIGO-Observatorium

So einen Versuch haben nun Forscher und Forscherinnen um den MIT-Physiker Vivishek Sudhir durchgeführt. Und zwar an Objekten, die in zweierlei Hinsicht bemerkenswert sind. Zum einen handelt es sich um vier zu einem Pendel vereinigte Spiegel des LIGO-Observatoriums, jener berühmten Anlage also, mit deren Hilfe 2016 der erste Nachweis von Gravitationswellen gelang.

Zum anderen sind die Spiegel, mit denen das mehr als 100 Mitgliedern starke Forschungsteam nun experimentiert hat, ungewöhnlich groß. Mit einer Masse von 10 Kilogramm sind sie für Versuche an der Grenze zur Quantenwelt eigentlich völlig ungeeignet. So große Objekte sollte man normalerweise nicht in den Grundzustand befördern können – aber offenbar geht das doch, wie die Forscher und Forscherinnen nun im Fachblatt „Science“ unter Beweis stellen.

Kühlung durch Rauschunterdrückung

Das war unter anderem deshalb möglich, weil Sudhir und sein Team eine neue Kühlungsmethode mit Elektrostaten entwickelt haben. „Die Methode funktioniert so ähnlich wie die aktive Rauschunterdrückung im Kopfhörer, nur dass wir in diesem Fall nicht Schallwellen eliminiert haben, sondern die thermische Bewegung“, sagt Sudhir im ORF-Interview. Um das zu erreichen, muss man allerdings zunächst wissen, wie und wo dieses Zittern überhaupt in Erscheinung tritt. Auskunft darüber gaben die Spiegel selbst, die im Normalbetrieb von LIGO dazu da sind, um winzige Dehnungen und Stauchungen der Raumzeit zu vermessen, eben die anno 1916 von Albert Einstein vorhergesagten Gravitationswellen.

Selfie: Forscher im Schutzanzug fotografiert in einen LIGO-Spiegel
Caltech/MIT/LIGO Lab
Selfie im Labor: der Spiegel

Die Spiegel hatte in dem Versuch also eine zweifache Rolle, sie waren sowohl Untersuchungsobjekt als auch Bewegungssensor – mit dieser Methode gelang es Sudhir und seinen Kolleginnen, sich (bzw. die Pendelbewegung der Spiegel) dem absoluten Nullpunkt bis auf 77 Nanokelvin anzunähern, bis zur Schwelle des Grundzustands. 10 Kilogramm in fast völliger Bewegungslosigkeit bedeuten Weltrekord, wie weit die Grenzen des Machbaren damit verschoben wurden, lässt sich erahnen, wenn man die Atome zählt, die da im Kollektiv vom thermischen Zittern befreit wurden: Es sind 10 hoch 26 bzw. hundert Quadrillionen.

„Wahrscheinlich sind es sogar mehr, wir können das nur abschätzen“, sagt Sudhir. “Bisher wurden nur winzige Objekte im Nanogrammbereich in den Grundzustand befördert. Die Spiegel aber sind so groß wie meine Brust. Man kann sie sehen und angreifen“ – wobei letzteres, wie Sudhir hinzufügt, eher theoretischer Natur ist. Tatsächlich würde sich natürlich niemand getrauen, mit den Fingern an dem Präzisionsinstrument herumzufummeln.

Gravitation unter der Lupe

Selbstzweck ist die Rekordjagd jedenfalls nicht, Sudhir will mit seinem Versuchsaufbau jetzt eine Grundsatzfrage klären, die Physiker schon seit 100 Jahren beschäftigt: Die Quantentheorie gilt für alles, was es gibt. Aber warum treten die von ihr beschriebenen Phänomene nur bei Photonen, Elektronen und all den winzigen Bausteinen der Materie auf – und nicht bei größeren Dingen, sofern man sie nicht im Labor präpariert? Warum kann sich ein Photon an zwei Orten gleichzeitig aufhalten, ein Fußball aber nicht?

Das liegt, soweit sind sich die Physiker einig, an den störenden Einflüssen der Umwelt. „Die Quantenphänomene verschwinden, wenn ein Objekt mit seiner Umgebung in Wechselwirkung tritt“, sagt Sudhir. „Welche Störungen das sind, wissen wir nicht. Roger Penrose hat einmal vermutet, dass die Gravitation dafür verantwortlich ist. Das werden wir überprüfen.“