Die österreichische Historikerin Regina Fritz hat sich mit der Situation von Jüdinnen und Juden in Ungarn vor und während des Zweiten Weltkriegs auseinandergesetzt. Anhand von über 300 Originaldokumenten wie Briefen, Gesetzestexten oder privaten Aufzeichnungen erzählt sie die Geschichte des ungarischen Antisemitismus und des Holocaust aus verschiedenen Perspektiven. “Ungarn 1944/45“ ist der Titel des Bandes, doch die Dokumente decken einen weitaus längeren Zeitraum ab, nämlich den von 1938 bis Mai 1945.
Erstes Land mit antijüdischem Gesetz
Bereits 1920 führte Ungarn als europaweit erstes Land ein antijüdisches Gesetz ein, nämlich einen Numerus clausus, der die Zulassung von jüdischen Studenten an den Universitäten auf einen bestimmten Anteil beschränken sollte.
Zum Buch
Der Band über das Schicksal der ungarischen Juden mit dem Titel „Ungarn 1944/45“ ist Band 15 einer 16 -teiligen Quellenedition mit dem Titel „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden 1933-1945.“ An der Edition arbeiten Forscherinnen und Forscher seit 2005.
Als die deutsche Wehrmacht vor 80 Jahren, am 22.6. 1941, mit dem „Unternehmen Barbarossa“ die Sowjetunion überfiel, stand Ungarn als Bündnispartner auf der Seite der Deutschen und deportierte tausende staatenlose Juden in die deutsch besetzte Ukraine, wo sie erschossen wurden. Eingegangen ist diese Massenvernichtung in die Geschichte als das „Massaker von Kamenez-Podolsk“
Todesfalle Ungarn
Doch Ungarns Verhältnis zu Jüdinnen und Juden war immer zwiespältig. So gab es auch nach 1938 noch jüdische Abgeordnete im Parlament, zugleich wurden neue antijüdische Gesetze verabschiedet. Juden wurden zwar diskriminiert, doch der Großteil blieb bis 1944 von Deportationen verschont.
Ende der dreißiger Jahre suchten auch viele österreichische Juden Zuflucht in Ungarn. Eine Todesfalle, wie sich herausstellen sollte. Im Buch gibt es das Beispiel eines österreichischen Ehepaars, von dem ein Brief an ihre Kinder in Wien erhalten geblieben ist. Geschrieben wurde er auf Toilettenpapier in der ungarischen Haft, das Ehepaar beschreibt seine Flucht aus Wien nach Ungarn. Sie schildern auch ihre Beweggründe, warum sie sich auf den Weg gemacht haben und wie schwierig es war, in Ungarn jemanden zu finden, der ihnen weiterhilft. Auch ihre Ängste und Hoffnungen drücken sie in dem Brief aus.
Verschiedene Perspektiven
Das Ehepaar wurde im Holocaust ermordet, der Brief gelangte allerdings zu den Kindern, die später in die USA emigrierten. Die wiederum überließen ihn dem Yad Vashem Archiv in Israel, und hier fand die Historikerin Regina Fritz ihn. Sie hat für ihren Sammelband über 300 verschiedenster Originaldokumente zusammengetragen und kommentiert.
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Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell am 18.6. um 13:55
„Die Dokumente aus der Zeit 1938 bis 1944 sind sehr vielfältig und zeigen sowohl die Verfolgung auf als auch das alltägliche Leben“, so Regina Fritz. Aus der Perspektive der Verfolgten geht es etwa darum, wie sie versucht haben mit dieser Situation auch umzugehen und wie sie versucht haben ihr Leben zu organisieren.
Massendeportationen ab 1944
Eine halbe Million jüdischer Menschen wurden während des Zweiten Weltkriegs aus Ungarn deportiert und in Auschwitz oder ins österreichischen Durchgangslager Strasshof deportiert, auch hier kamen viele zu Tode. Im Jahr 1944 wurden allein 20.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus Ungarn nach Strasshof zur Zwangsarbeit deportiert. Mehrere tausend ungarische Roma und Sinti kamen ebenfalls im Holocaust ums Leben. In Ungarn selbst wurden unter deutscher Besatzung Ghettos und später auch Zwangsarbeitslager errichtet.
Regina Fritz hat auch Dokumente gefunden, die die Täter sprechen lassen. „Es gibt zum Beispiel auch einen Brief von jemandem aus der deutschen Minderheit in Ungarn, der die Einführung des gelben Sternes sehr begrüßt und in einem Brief an den „Stürmer“ seine Freude ausdrückt, dass endlich eine neue Regierung (mit der deutschen Besetzung) in Ungarn eingesetzt wurde,“ erzählt die Historikerin Fritz, die am Historischen Institut der Universität Bern angesiedelt ist und als externe Lektorin an der Universität Wien am Institut für Zeitgeschichte lehrt.
Originaldokumente aus allen Milieus
Die Aufteilung im Buch sei etwa 40 Prozent Opfer-Dokumente, 40 Prozent Täter-Dokumente und 20 Prozent Darstellungen von Dritten. „Dann war uns natürlich wichtig, grundlegende Fakten abzubilden und möglichst viele verschiedene Akteure zu Wort kommen zu lassen, etwa hohe Funktionsträger und Dorfbürgermeister, Kirchen- und Wirtschaftsführer, Zivilisten und Militärs, Bittsteller und Widerstandskämpfer, Angehörige aller sozialen Schichten“, erklärt Regina Fritz.
Viele Dokumente geben zudem Aufschluss über den Todesmarsch der ungarischen Juden im Winter 1944 Richtung Hegyeshalom, über die Versuche der ausländischen Diplomaten, das Leiden der Verschleppten zu mildern und die Verfolgten zu retten, aber auch über die Beschwerden der deutschen Behörden an der österreich-ungarischen Grenze über den schlechten Zustand der Deportierten. Der Bezug zum Nachbarland Österreich scheint im Buch in zahlreichen Dokumenten auf. So zeigt sich die Sorge über den Anschluss Österreichs und damit die unmittelbare Grenznachbarschaft zum Deutschen Reich in zahlreichen abgedruckten Tagebucheinträgen.