Illustration eines Rotkehlchens
Corinna Langebrake and Ilia Solov’yov
Corinna Langebrake and Ilia Solov’yov
Quantenmechanik

Der magnetische Kompass von Zugvögeln

Zugvögel orientieren sich am Magnetfeld der Erde. Ausschlaggebend dafür ist ein lichtempfindliches Eiweiß in der Netzhaut der Tiere. Durch einen quantenmechanischen Prozess könnte es als innerer Kompass dienen, wie Forscherinnen und Forscher nun experimentell überprüft haben.

Während wir Menschen unsere Umwelt mit den fünf Sinnen – Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten – wahrnehmen, orientieren sich viele Tiere darüber hinaus auch am Erdmagnetfeld. Wie das möglich ist, war bisher nur in der Theorie erforscht. Ein interdisziplinäres Forscherteam der Universitäten Oldenburg (Deutschland) und Oxford (Großbritannien) konnte nun die theoretischen Annahmen über den inneren Kompass von Vögeln auch in der Praxis überprüfen. Die Ergebnisse der Studie wurden im Fachmagazin „Nature“ veröffentlicht.

Eiweiß erstmals künstlich hergestellt

Der dänische Biologe Henrik Mouritsen, der an der Universität Oldenburg tätig ist, untersucht den Orientierungssinn von Vögeln im Zusammenhang mit dem Erdmagnetfeld bereits seit etwa 17 Jahren. Er erklärt gegenüber dem ORF: „Es gibt schon seit den 1970er-Jahren die Hypothese, dass Vögel das Erdmagnetfeld durch einen quantenmechanischen Prozess im Auge wahrnehmen können. In den letzten Jahren hat unsere Forschung gezeigt, dass dabei wahrscheinlich das Eiweiß Cryptochrom 4 in der Netzhaut der Tiere ausschlaggebend sein könnte.“

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 24.6., 13:55 Uhr.

Einer Doktorandin aus Mouritsens Arbeitsgruppe und der Erstautorin der Studie, Jingjing Xu , gelang ein entscheidender Schritt, um den Mechanismus im Eiweiß weiter entschlüsseln zu können. Sie konnte Cryptochrom 4 – nachdem dessen genetischer Code in Rotkehlchen entschlüsselt wurde – erstmals künstlich im Labor herstellen. Die Zugvogelart wurde ausgewählt, weil Rotkehlchen bereits gut erforscht seien, so Mouritsen.

Der Quantensinn im Auge

Im Rahmen der Studie wurden große Mengen Cryptochrom 4 in Bakterienkulturen produziert. In Zusammenarbeit mit einem Team an der Universität in Oxford konnten die Eiweiße anschließend untersucht werden. Dabei wurden verschiedene Methoden angewandt, darunter etwa Magnetresonanzmessungen und neue spektroskopische Verfahren. Mouritsen: „In Oxford haben sie Spektrometer gebaut, die tausend Mal sensitiver sind als ähnliche bisher aktive Spektrometer.“ Dabei konnte festgestellt werden, dass Cryptochrom 4 tatsächlich empfindlich auf Magnetfelder reagierte. „Was in der Theorie bereits angenommen wurde, konnten wir in der Praxis also bestätigen“, so Mouritsen.

Illustration von Cryptochrom 4 mit den vier Aminosäuren (hellgrün),
Corinna Langebrake und Ilia Solov’yov
Illustration von Cryptochrom 4 mit den vier Aminosäuren (hellgrün), die für die magnetischen Eigenschaften verantwortlich sind

Darüber hinaus entschlüsselte das Team auch den Mechanismus, durch den diese Sensitivität entsteht. „Eine entscheidende Rolle dabei spielen Elektronen, die sich innerhalb des Moleküls bewegen können, nachdem sie durch blaues Licht aktiviert wurden“, erläutert der Biologe. Eiweiße wie Cryptochrom 4 sind Ketten aus Aminosäuren. Das Cryptochrom 4 von Rotkehlchen besteht aus 527 dieser Bausteine. Quantenmechanische Modellrechnungen, die im Rahmen der Studie durchgeführt wurden, legen nahe, dass vier dieser 527 Aminosäuren – sogenannte Tryptophane – entscheidend für die magnetischen Eigenschaften des Moleküls sind. Den Berechnungen des interdisziplinären Forscherteams zufolge springen Elektronen von einem Tryptophan zum nächsten und erzeugen dabei sogenannte Radikalpaare, die auf Magnetfelder reagieren.

Forscher mutierten Eiweiß

Um dies experimentell auch zu belegen, stellte das Team aus Oldenburg leicht veränderte Versionen des Cryptochroms von Rotkehlchen her, in denen sie jeweils ein Tryptophan durch eine andere Aminosäure ersetzen. So blockierten die Forscherinnen und Forscher die Bewegung von Elektronen. Anhand dieser modifizierten Eiweiße konnten Chemiker aus Oxford experimentell zeigen, dass sich die Elektronen innerhalb des Cryptochroms tatsächlich genauso bewegen wie in den theoretischen Berechnungen vorhergesagt – und dass die erzeugten Radikalpaare für die beobachtete Magnetfeld-Sensitivität entscheidend sind.

Mouritsen: „Wir haben bei unserer Forschung auch Cryptochrom 4 von Hühnern und Tauben, also keinen Zugvögeln, künstlich hergestellt. Die Eiweiße dieser Arten reagieren zwar ähnlich auf Licht wie die des Rotkehlchens, aber sie sind deutlich weniger empfindlich für Magnetfelder.“

Weitere Untersuchungen nötig

Die theoretischen Annahmen, dass ein Molekül im Sehapparat von Vögeln magnetisch sensitiv ist, konnten im Rahmen der Studie zwar bestätigt werden, ein endgültiger Nachweis, dass es sich dabei um den tatsächlichen Magnetsensor von Zugvögeln handelt, sei dies aber noch nicht. „Wir haben zwar herausgefunden, dass Cryptochrom 4 auf Magnetfelder reagieren kann, aber ob es das im Vogel auch tut, wissen wir nicht“, so Mouritsen. Denn bei allen Experimenten untersuchten die Forscher die Eiweiße isoliert im Labor. Die verwendeten Magnetfelder waren zudem stärker als das Erdmagnetfeld. Weiterführende Studien, um herauszufinden ob der Prozess auch tatsächlich in den Augen von Vögeln stattfindet, seien derzeit allerdings technisch noch nicht möglich.

Laut Mouritsen sei es außerdem wahrscheinlich, dass die Eiweiße in den Vögeln, also in ihrer natürlichen Umgebung, deutlich empfindlicher auf Magnetfelder reagieren als im Labor. Der Grund dafür sei, dass Cryptochrom 4 in den Zellen der Netzhaut wahrscheinlich fixiert und in die gleiche Richtung ausgerichtet ist, wodurch die Sensitivität für die Richtung des Magnetfeldes ansteigen sollte.

Mouritsen: “Fundamentale Erkenntnis“

Ein endgültiger Nachweis von Cryptochrom 4 als Magnetsensor wäre laut dem dänischen Biologen von großer Bedeutung: „Das wäre fundamental, denn es würde zeigen, dass Vögel durch diesen quantenphysikalischen Mechanismus in den Netzhautzellen Umweltreize wahrnehmen können, die bis zu zehn Millionen Mal schwächer sind als das, was bisher als wahrnehmbar galt.“

Neben den Fortschritten in der Erforschung biologischer Sinnessysteme könnte ein Nachweis des Magnetsensors in Vögeln auch im Naturschutz von Bedeutung sein. Um vor allem Zugvögel auf ihren langen Reisen bestmöglich zu schützen, müsse man nämlich zuerst deren inneren Kompass verstehen, so Mouritsen.