Anna Kiesenhofers Rennrad vor einer Tafel mit mathematischen Gleichungen
Anna Kiesenhofer
Anna Kiesenhofer
Olympia-Porträts

Sattelfest am Rad und in der Mathematik

Man muss nicht unbedingt Mathematikerin sein, um herauszufinden, wie man perfekt auf einem Rennrad sitzt und die Kräfte beim Treten optimiert. Es kann aber helfen, wie Anna Kiesenhofer beweist. Sie ist seit Sonntag sensationell Olympiasiegerin im Radstraßenrennen, im Brotberuf Mathematikerin und Expertin für partielle Differentialgleichungen.

Radsport hat sehr viel mit langem Ausdauertraining zu tun. Aber auch mit perfekter Aerodynamik und Sitzposition sowie der Optimierung von Krafteinsatz und Leistung. Da Anna Kiesenhofer keinem großen internationalen Team angehört, sie fährt für das Team Cookina Graz, tüftelt sie selbst an der idealen Technik. Was ihr nicht schwerfällt, denn sie ist Mathematikerin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL, hier ihre EPFL-Website).

Terme summieren beim Treten

„Das ist eigentlich ganz lustig“, sagt Kiesenhofer gegenüber science.ORF.at in einem Interview vor ihrem Sieg im Olympiarennen. „Man kann wirklich recht leicht berechnen, wie viel Watt man treten muss, um die Kräfte beim Radfahren zu überwinden – in erster Linie Luftwiderstand und Schwerkraft. Wenn ich einen Berg rauffahre, arbeite ich gegen die Gravitation. Das sind diverse Terme, die man zu einer Gesamtkraft summieren kann – und die muss man überwinden.“

 Radfahrerin Anna Kiesenhofer
picturedesk.com/EXPA/Reinhard Eisenbauer
Kiesenhofer nach dem Sieg beim Bergzeitfahren aufs Hochkar 2020

Science goes Olympia

Während der Olympischen Spiele stellen wir eine Reihe von Wissenschaftlerinnen vor, die auch Spitzensportlerinnen sind oder waren: zu hören in Ö1 Wissen aktuell, zu lesen in science.ORF.at.

Terme summieren beim Treten – das klingt generell nach einer trefflichen Kombination. „Sowohl Mathematik als auch Radsport erfordern einen ähnlichen Charakter – man muss sich auf eine Sache konzentrieren können, braucht viel Willenskraft“, sagt die 30-jährige Niederösterreicherin. „Manchmal gibt es ein mathematisches Problem, an dem man wochenlang rumgrübelt. Beim Radsport ist es auch so. Man muss extrem geduldig sein und Tage, Wochen oder Jahre trainieren, um wirklich gut zu werden.“

„Wissen, wie die Welt funktioniert“

Kiesenhofer ist wirklich gut: Schon vor dem Olympiasieg war sie fünffache Staatsmeisterin, war 2019 Fünfte bei der Zeitfahr-Europameisterschaft und war die einzige Frau in Österreichs kleinem Straßenradteam in Tokio. Auf den Radsport hat sie sich relativ spät konzentriert, erst mit 22 Jahren. Zuvor war sie Triathletin, Radfahren stellte sich als ihre beste Disziplin heraus. Die Liebe zur Wissenschaft ist älter, war schon in der Schule vorhanden. Die Motivation stammt aus der Physik. „Ich wollte wissen, wie die Welt funktioniert, ganz hochtrabend gesagt“, erzählt Kiesenhofer und lacht dabei. „Und die Mathematik ist das Werkzeug und die Sprache dafür, um die Physik zu beschreiben. So bin ich über die Physik in die Mathematik geschlittert.“

Die Folgen waren Bachelorstudien an der TU Wien in Mathematik und Physik, der Mathe-Master in Cambridge und der Mathe-PhD in Barcelona. Warum gerade Mathematik, das generationsübergreifende Schreckensfach an den Schulen? „Weil sie eine Klarheit auszeichnet“, sagt Kiesenhofer. „Man kann auch in der Mathematik nicht alles lösen, man hat nicht immer ein sicheres Richtig oder Falsch. Aber die Mathematiker sind zumindest ehrlich. Sie sagen, wenn man etwas nicht weiß. Es ist alles klar formuliert, man hat ein Theorem und dabei werden alle Voraussetzungen benannt, auch welche Schlussfolgerungen man zieht.“ In der Physik sei das anders, die Welt da draußen viel schwammiger.

Natürlich kann auch die Mathematik schwammig werden. Wenn man nur tief genug gräbt, gerät auch ihre Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit in Gefahr. „Aber“, betont Kiesenhofer und lacht erneut, „die Mathematik ist zumindest so klar, dass man sich schon sehr anstrengen muss, um irgendwelche Unklarheiten zu finden.“

Anna Kiesenhofer bei der Einzelzeitfahr-WM 2020 in Imola/Italien
APF – MARCO BERTORELLO
Anna Kiesenhofer bei der Einzelzeitfahr-WM 2020 in Imola/Italien

Differentialgleichungen auf dem Herd

Als EPFL-Postdoc in der Schweiz beschäftigt sich Kiesenhofer seit vier Jahren mit partiellen Differentialgleichungen. Klingt nicht einfach, ist es auch nicht, Anwendungsbeispiele aus der Physik sind dafür aber zahlreich. „Von schwingenden Saiten über Wärmeleitung bis zu elektromagnetischen Wellen, der Quantenphysik und der Allgemeinen Relativitätstheorie – all das basiert auf partiellen Differentialgleichungen.“

Um beim vielleicht anschaulichsten Beispiel zu bleiben, der Leitung von Wärme: Auf einer eingeschalteten Herdplatte will man etwa wissen, wie warm es an bestimmten Orten zu bestimmten Zeitpunkten ist. Und das kann man mit partiellen Differenzialgleichungen berechnen, erklärt Kiesenhofer. „’Partiell’ bedeutet, dass die Änderung in verschiedene Richtungen quasi in der Gleichung drinsteckt, man hat also verschiedene Dimensionen. Bei der Herdplatte hat man einerseits den Ort, also schon zwei Dimensionen, und dann noch die Zeit, also insgesamt drei Dimensionen. Und partielle Differenzialgleichung heißt, dass man die Änderung der Größe – in dem Fall die Temperatur – in verschiedenen Dimensionen in der Gleichung hat.“

Hitze spielte nicht nur auf dem Herd eine Rolle, sondern auch bei den Radrennen in Tokio. Kiesenhofer konnte sie womöglich ebenso berechnen wie ihren idealen Krafteinsatz. Ganz allein ist sie dabei nicht, sie ist nicht die einzige Mathematikerin im Frauen-Radsport. Auch die Italienerin Vittoria Bussi, seit drei Jahren Stunden-Weltrekordlerin, hat in Mathematik promoviert. Der Titel ihrer Doktorarbeit an der Uni Oxford: „Derived symplectic structures in generalized Donaldson–Thomas theory and categorification“.